Die (Wieder-) Entdeckung der Dankbarkeit

„Dankbarkeit ist nicht nur die größte aller Tugenden, sondern auch die Mutter von allen“ (Cicero). Falls dem so ist, dann ist diese „Mutter aller Tugenden“ in unseren Breitengraden wohl leider etwas in Vergessenheit geraten. Doch vielleicht erleben wir bald ihre Rückkehr – in unserem Land, wie im persönlichen Leben

Freude und Dankbarkeit© S.Kobold – Fotolia.com

Dankbarkeit ist eine Haltung, die ein überwiegend gutes Ansehen genießt – zumindest theoretisch. Praktisch fällt es häufig schwer, den eigenen Alltag von diesem positiven Gefühl prägen zu lassen. Da liegen uns Unzufriedenheit, Klagen oder Zynismus oft näher. Dabei ist es allgemein bekannt, dass dankbar zu sein, gut tut. Auch die Psychologie widmet sich seit einiger Zeit stärker den positiven Emotionen und damit auch der Dankbarkeit. Jedoch weist die Betonung der Dankbarkeit häufig auf einen Mangel derselben hin. Deshalb wurde von einem Zusammenschluss christlicher Gemeinden, Werke und Verbände für den Zeitraum ab Oktober 2015 das „Jahr der Dankbarkeit“ ausgerufen. Erklärtes Ziel ist es, ein Klima der Dankbarkeit in unserem Land zu fördern (www.jahr-der-dankbarkeit.net).

Doch wie entsteht Dankbarkeit eigentlich? Was befördert sie? Kann man sich einfach entscheiden, dankbar zu sein, oder hängt das letztlich nicht doch von den Umständen ab? Auffällig ist, dass es tatsächlich Ermutigungen zur Dankbarkeit gibt – durch das genannte Aktionsbündnis, durch Politiker, Sportler oder auch schon in der Antike durch den Apostel Paulus. Der schrieb prägnant: „Seid dankbar in allen Dingen“ (1. Thessalonicher 5,18). Frommes Wunschdenken oder tatsächlich ernst gemeinte Herausforderung? Der Satz scheint im Widerspruch zu stehen zur Wikipedia-Definition von Dankbarkeit als ein positives Gefühl „in Anerkennung einer materiellen oder immateriellen Zuwendung“. Die Frage stellt sich nämlich, ob es tatsächlich möglich ist „in allen Dingen“ dankbar zu sein, wenn also solch eine „Zuwendung“ ausbleibt? Was ist z. B. mit Lebenskrisen? Oder mit den alltäglicheren „Krisen“, wie verpatzten Klausuren, dem leeren Bankkonto oder schlicht Stress und Überlastung? Was könnte es da bedeuten, dankbar zu sein? Dankbar wofür?

Vor einiger Zeit kam für mich durch eine Lektüre diesbezüglich etwas Licht ins Dunkel. Corrie ten Boom war mit ihrer Familie während des 3. Reichs in Holland im Widerstand gegen die Nazis aktiv gewesen. In ihrem Buch „Die Zuflucht“ berichtet sie davon, wie sie gemeinsam mit ihrer Schwester Betsie ins Konzen-trationslager Ravensbrück gebracht wurde. In ihrer vielfach überbelegten Schlafbaracke wimmelte es nur so von Flöhen. Die Schwestern lasen täglich in ihrer winzigen, ins KZ geschmuggelten Bibel. Eines Tages sahen sie sich herausgefordert, für sich zu klären, wie sie mit der genannten Aufforderung des Apostels Paulus umgehen wollten: Sollten sie den Satz „Seid dankbar in allen Dingen“ praktizieren oder ihn lieber doch verwerfen? Besonders Corrie kostete es viel Überwindung, sich dem zu stellen. Es gelang ihr noch einigermaßen, das Positive in ihrer Situation zu sehen (das Zusammensein mit ihrer Schwester, den erfolgreichen Bibelschmuggel, die anderen Mitgefangenen etc.). Doch dann wurde sie von Betsie aufgefordert, selbst für die Flöhe zu danken:

„Die Flöhe! Das war denn doch zuviel. ‚Betsie, selbst Gott kann mich nicht dazu bringen, für einen Floh dankbar zu sein.’ – ‚Sei dankbar in allen Dingen’, zitierte sie. ‚Es heißt nicht in angenehmen. Flöhe gehören hierher, wohin Gott uns geführt hat.’ – Und so dankten wir für die Flöhe. Aber diesmal war ich sicher, dass Betsie sich irrte.“

Einige Seiten später erfährt man als Leser, dass sich diese ungemütliche, dreckige Baracke als Raum herausstellte, in dem die Gefangenen eine unerwartete Freiheit genossen. Der Grund, zu meiner Verblüffung, waren die Flöhe! Die Insassinnen fanden heraus, dass die Aufseherinnen wegen dieser lästigen Tierchen nie den Innenraum betraten!

Dankesbrief© Bernd Vonau – Photocase.com  Für mich zeigt sich in dieser Geschichte etwas über das Wesen der Dankbarkeit. Ich räume ein, dass es sich bei den ten-Boom-Schwestern um ein außergewöhnliches Beispiel handelt. In der genannten Situation gelang es ihnen sogar, dankbar zu sein für Dinge, die ihnen das Leben erschwerten. Mir verlangt das viel Respekt ab und macht mich demütig, auch wenn sie bei dem Versuch, „in allen Dingen“ dankbar zu sein, das „in“ mit „für“ verwechselten. Und gleichzeitig wird für mich an dieser Geschichte besonders deutlich, dass Dankbarkeit eben keine Frage der Umstände ist, sondern eine Frage der Perspektive. Sehe ich ausschließlich das, was mir scheinbar schadet oder unbequem ist? Oder kann ich in all dem Schwierigen auch Gutes entdecken? Ob mir das gelingt, hängt sicherlich u. a. davon ab, was mir andere vorgelebt haben. Aber es hat auch etwas damit zu tun, wovon ich mein Leben bestimmen lassen möchte. Selbstmitleid kann ein trügerischer Trost sein. Es kann gefährlich sein, sich ihm hinzugeben. Dagegen wollen andere sich von negativen Erfahrungen nicht begrenzen lassen und nutzen Optimismus als Mittel, um weiterzukommen.

Nicht überraschend war für mich, dass diese Geschichte von zwei gläubigen Christinnen erlebt wurde. Christen, die mit den Aussagen der Bibel leben, haben in punkto Dankbarkeit zwei Vorteile: Zum einen haben sie für ihren Dank ein Gegenüber. Sie können Gott als Person ansprechen. Jesus ermutigte seine Zuhörer sogar, Gott im Gebet ganz vertraut mit „Papa“ anzusprechen. Die Beziehung, die dabei impliziert wird, schafft eine emotionale Unterstützung und wirkt der Einsamkeit entgegen. Zum anderen können Christen im Vertrauen darauf leben, dass Gott, der die Geschicke dieser Welt lenkt, die Menschen von Herzen liebt und mit ihnen Gutes im Sinn hat. Wenn dies die Prämisse ist, unter der man die Welt betrachtet, gibt es selbst in den kleinen und großen Krisen des Lebens Hoffnung, die in Dankbarkeit Ausdruck findet.

Dankbarkeit in Krisen ist dann nicht Freude über etwas, sondern Freude angesichts etwas. Sie ist ein Empfinden von „Ja, so soll es sein – auch wenn ich nicht weiß warum.“ Sie ist ein Gefühl von Gnade, von unverdientem Beschenkt-Werden. Dankbarkeit in diesem Sinne bedeutet, dass einen in Krisen die „Warum?“-Frage nicht länger – oder nicht mehr so heftig – quält. Wieso? Weil man sich selbst bei dem gut aufgehoben weiß, der das eigene Leben zu einem guten Ziel bringen wird.

Ich merke bei mir selbst, wie es mir im Alltag oft an Zufriedenheit fehlt. Vielleicht sollte ich mir mehr Zeit nehmen zu betrachten, was mein Leben zur Zeit ausmacht, und dafür „Danke“ zu sagen. Ich bin überzeugt, dass der englische Philosoph Sir Francis von Verulam Bacon eine tiefe Wahrheit aussprach, als er sagte: „Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“ Dankbar zu leben, gelingt vielleicht nicht von einem Tag auf den anderen. Aber es besteht die Möglichkeit, die Prämisse auszuprobieren, dass man als Mensch von Grund auf geliebt ist. Und vielleicht lässt sich dadurch Dankbarkeit noch einmal ganz neu entdecken.

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