Mein Wille geschehe

Wie konnte ich so tief sinken? Bis eben war ich noch die wohlerzogene und gläubige Tochter überaus christlicher Eltern gewesen, die ihre mehr oder minder peinlichen Höhen und Tiefen der Teenagerjahre hinter sich gelassen hatte. Ich war nun endlich erwachsen, schön und stark genug, in die Welt hinauszugehen und sie für mich zu erobern. Das dachte ich zumindest. Doch im Moment lag ich in meiner eigenen Kotze, das Herz am Rasen, der Kopf am Durchdrehen. Wie konnte ich nur so tief sinken?

Ich kam gerade von meinem Au-pair-Jahr aus England zurück und hatte noch einige Monate Zeit bis zum Beginn meines Studiums, so wie auch eine gute Freundin von mir. Also beschlossen wir, in die größte Disco der Stadt zu gehen, um uns die Zeit zu vertreiben.

Da stand er. Mister Big Mistake, DJ und Musikproduzent.

Anfänglich war ich nicht allzu beeindruckt von ihm, aber nach einigen Gesprächen erwachte mein Interesse. Wir verstanden uns gut. Er verhielt sich erfrischend unaufdringlich und war damit eine äußerst bedrohte Art in der Clubszene. Sein hübsches Gesicht tat das Üb-rige. Um sechs Uhr morgens fuhr ich mit meiner Freundin, die selbst DJane und mit ihm befreundet war, noch zu ihm, wo wir ein paar Burger snackten und unsere Gespräche fortführten. So ging es die nächsten Tage weiter, bis ich merkte, dass ich Gefühle für ihn entwickelte und ich Angst bekam, weil ich bis dahin erst einmal verliebt gewesen war. Ich konfrontierte ihn also mit der Situation und teilte ihm meinen Beschluss mit, den Kontakt abzubrechen, woraufhin er mir entsetzt und unter Tränen beichtete, er habe sich auch in mich verliebt. Zu dem Zeitpunkt war ich naiv genug, ihm seine Liebesschwüre zu glauben – so schlug ich alle Warnungen bezüglich seines Charakters in den Wind.

wille 300© neo.n - photocase.deIch hatte erst eine Beziehung hinter mir: Damals waren wir mitten in der Pubertät und bis über beide Ohren ineinander verliebt gewesen. Außerdem war mein erster Freund, so wie ich auch, ein sehr gläubiger Christ. Die Beziehung hielt fünf Jahre und da sie mein einziger Vergleich war, ging ich davon aus, dass jede Beziehung so glücklich und langlebig sein würde. Aber ich hatte mich geirrt. Gewaltig.

Ich kam mit dem DJ zusammen, doch so schnell wie es angefangen hatte, hörte es auch wieder auf. Nach drei Wochen war Schluss. Er sei sich seiner Gefühle nicht mehr sicher,
gestand er. Was? Nein! So war das nicht vorgesehen! Ich hatte mir etwas anderes vorgestellt und außerdem war doch nicht ich diejenige gewesen, die auf dieser Verbindung bestanden hatte! Also kam etwas anderes auch nicht in Frage!

Ich beschloss, das Thema nicht ruhen zu lassen. Und so ging ich ab sofort mit meiner Freundin fast jeden Tag in diesen Club. Dienstag, Donnerstag, Freitag, Samstag. An all diesen Tagen tranken wir bis zum Vollrausch, Woche für Woche. Ich wollte ihn zurück bzw. wollte, dass er mich wieder wollte. Mit meinen 19 Jahren dachte ich, ich könne ihn, einen 36-Jährigen, dazu bringen, mich auf Händen zu tragen. Was ich bekam, war eine „inoffizielle Beziehung“. Er liebte mich, sagte er. Ich sei die einzige Frau, die ihn verstünde und für die er jemals so viel empfunden habe, aber er sei nun mal beziehungsunfähig. Aha. Interessant. Da kann man doch bestimmt dran arbeiten. Doch Fehlanzeige. Wir trafen uns vielleicht alle zwei Wochen über drei Jahre hinweg und ich musste ihn außerdem mit der ganzen weiblichen Bevölkerung meiner Stadt teilen. Aber in meiner Naivität fieberte ich auf die Tage hin, an denen er im Club auflegte, denn etwas angesäuselt war er – welch Wunder! - sehr viel anhänglicher. Nachdem meine Freundin anfing, ihr Abi nachzuholen, musste ich mir einen anderen Partybegleiter suchen und fand ihn in einem langjährigen und wohlhabenden Freund, der an meiner Hochschule freie Kunst studierte. Spätestens hier hätte ich mir denken können, wohin das noch führen sollte, denn freie Kunst und viel Geld sind immer eine schlechte Kombination.

Wir fingen an, uns in seiner Künstlervilla zu treffen, der obligatorische Alkohol und die Zigaretten wie üblich auf dem Tisch. Das schlechte Gewissen wegen dieses Rauschmittelkonsums hatte ich schon vor langer Zeit abgelegt und so kam es, dass ich sein Angebot, mal Kokain oder Mephedron auszuprobieren, nicht als Grenzüberschreitung empfand. Es gab keinen inneren Kampf. Alles glitt in zwanglosem Gelächter hin, sodass ich mich nicht mehr bewusst an die erste Line oder die erste Pille erinnern kann, sehr wohl aber an das starke Glücksgefühl – und das Gefühl grenzenloser Freiheit und Einheit mit mir selbst und meinen Mitmenschen. Wir gingen immer in den gleichen schäbigen  Club, der erst um null Uhr seine Tore öffnete und sich erst ab drei Uhr morgens wirklich füllte. Alle waren auf irgendeine Art berauscht. Die Musik hämmerte in meinen Ohren, beeinflusste meinen Herzschlag und plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören zu tanzen, nicht selten  bis elf Uhr morgens. Ich wollte dieses überwältigende Gefühl öfter erleben, sodass zu meinem übermäßigen Alkoholkonsum auch immer mehr harte Drogen kamen.

Die starken Glücksgefühle ließen mich vor allem die Frustration und die Verletztheit wegen meiner grandiosen „inoffiziellen Beziehung“ vergessen, sie ließen mich vor ihm selbstbewusst und selbstverliebt auftreten. Und wenn ich schon in mich selbst verliebt war, wieso sollte er es dann nicht auch sein? Mein Körper allerdings vertrug die Drogen nicht allzu gut. Manchmal ging es mir so schlecht, dass ich den Krankenwagen rufen wollte, aber nicht konnte, weil ich nach einer durchtanzten Nacht damit beschäftigt war, meinen bis zur Erschöpfung gepeitschten Körper auf den Badezimmerboden zu legen, den vielen Stimmen in meinem Kopf zuzuhören und Gott anzuflehen, mich nicht sterben zu lassen. Ich erinnere mich hauptsächlich an mein viel zu schnell schlagendes Herz. Es raste wie verrückt und doch verwandelte es sich langsam, aber sicher in einen Eisblock.

Die Gefühlsachterbahn, ausgelöst durch die Drogen, ließ mich im Alltag immer mehr abstumpfen.  An die stark depressiven Phasen nach dem Konsum hatte ich mich schon so sehr gewöhnt, dass ich nicht mehr wusste, wie sich normale Freude oder Glück anfühlt, und ich wollte es auch nicht mehr wissen, denn das hätte mir den eigent-lichen Zweck einer Beziehung vor Augen geführt. Also fing ich auch an, mir meine Gefühle auszureden, damit ich vor mir selbst nicht als armselige Glucke dastehen musste, die irgendeinem Typen hinterherläuft. Ich redete mir ein, dass ich eigentlich gar nicht so viele Gefühle für ihn hätte, sondern ihn nur als Freund mochte. Und so kam es dann auch. Meine Gefühle verließen mich und ich empfand nichts mehr, für niemanden. Ich wusste nur noch, dass ich ihn wollte, so sehr, dass ich ihn dafür hasste. Ich hasste ihn abgrundtief und wollte ihn um jeden Preis.

Wille2 300© Seleneos - photocase.deDoch was war mit Gott? Mein ganzes Leben lang hatte ich doch mit ihm gelebt und war mir dadurch bewusst, dass ich sündigte. Ich sündigte gegen meine Freunde, für die ich kaum noch etwas empfand. Ich sündigte gegen meinen „Freund“, den ich eigentlich nur noch hasste. Ich sündigte gegen mich, weil ich mich langsam, aber sicher selbst zerstörte. Aber vor allem sündigte ich gegen Gott.

Es war nicht der Drogenkonsum und es war auch nicht das Begehren eines Menschen, der mir nicht gut tat. Das, was mich von Gott weggebracht hatte, war ich selbst gewesen. Ich stand vor den Scherben meiner Vergangenheit und konnte die Schuld noch nicht mal jemand anderem geben, meiner Erziehung, meiner Kirche oder meinem Freundeskreis. Ich hatte mich entschieden und mein Wille sollte geschehen! Was ich bekam waren drei Jahre Party, Drogen, Sinnlosigkeit und vor allem die Selbstaufopferung für einen Menschen, der das noch nicht mal verlangte. All das bis zur Erschöpfung. Am Ende dieser drei Jahre war der psychische Druck so groß, dass nicht nur meine Seele, sondern in Folge auch mein Körper aufgab. Ich bekam alle paar Tage Fieberschübe, sodass ich die meiste Zeit nur noch im Bett verbringen konnte. Versuchte ich doch aufzustehen, gaben meine Beine nach und ich konnte mich nicht lange halten. Noch schlimmer aber war, dass mein Verstand anfing, mir Streiche zu spielen. Pünktlich zum Wochenende verfiel ich in eine paranoide Stimmung, bis hin zu leichten Wahnvorstellungen, die mir vorgaukelten, alles und jeder sei hinter mir her. Eines Nachts, nach einer Party, fuhr ich mit dem Fahrrad nach Hause und sah eine Gruppe Menschen unter einem Baum am Ende der Straße stehen. Kaum an ihnen vorbeigefahren, schaute ich zurück und sie waren verschwunden. Geräusche flüsterten meinen Namen. Leute schauten mich bösartig an. Ich zog in Erwägung, mich einweisen zu lassen, aber noch wollte ich nicht aufgeben. Die Zeit brach meinen Willen nicht, im Gegenteil: Je länger ich kämpfte, desto verbissener und sturer wurde ich. Ich kämpfte gegen Gott und sagte ihm immer wieder, ich wolle das so und er könne und dürfe nichts gegen meinen Willen unternehmen! Hier lag das Dilemma. Was tut man, wenn man etwas anderes will als Gott? Und was tut man, wenn der schlimmste Fall eintritt: Man will auch nicht anders wollen. Ich wusste, dass die Beziehung mir schadet, und ich wusste, dass das, was ich da tue, schlecht für mich war. Nein! Ich spürte sogar mit jeder Faser, wie Gott mir laut zurief und versuchte, mich zu Verstand zu bringen! Ich kannte das Ende und trotzdem wollte ich es. Hier begann das von Christen so oft deklarierte Konzept des freien Willens für mich keinen Sinn mehr zu ergeben. Mein Wille war zu meiner Gefängniszelle geworden. Und das Schlimmste daran war, dass ich wusste: Ich müsste nur nicht mehr wollen, dann wäre ich frei. Ich stellte mir immer und immer wieder die eine Frage, die sich schon Paulus stellte. Nur hätte ich mir schon früher die Antwort zu Herzen nehmen sollen: „Wer rettet mich aus dieser tödlichen Verstrickung? Gott sei gedankt durch Jesus Christus, unseren Herrn: Er hat es getan!“ (Römer 7, 24 – 25)

Das ist das Schöne: Jesus befreit. Nicht nur von Sünden. Nicht nur von den Prägungen der Vergangenheit, die einem sagen: „So bist du nun mal, du musst es einfach tun!“ Nein, er befreit einen auch von den ganzen verdrehten und verworrenen Wünschen, Gedanken und Entschlüssen, die man für das eigene Ich hält. Und das war die größte Befreiung, die es für mich hätte geben können.

Ich war am Ende und hatte nichts mehr. Keine Würde, keine Selbstachtung, nur noch meinen Willen. Wie sollte ich den auch noch aufgeben? Zum hundertsten Mal saß ich auf meiner Bettkante, gefühllos betend und erklärend, ich könne nicht anders. Ich spürte, dass ich vor einem Abgrund stand. Entweder würde Gott mich retten oder ich würde demnächst nicht mehr leben. Aber war mir das überhaupt noch wichtig? Was war mir mein Leben noch wert? Wenn ich am Tag nicht schlief (denn vor dem Abend hatte der Tag ja eh keinen Sinn) ging ich Partyklamotten shoppen, je ausgefallener desto besser. Der Sinn meines Lebens begann mit dem ersten Lidstrich und endete mit dem letzten Drink, viel hatte ich also nicht zu verlieren. Und doch da, bei einem weiteren verzweifelten Gebet, geschah es. Meine halbtote Seele unternahm einen letzten Versuch gegen meinen Willen und ich betete, dass Gott mich irgendwie austricksen sollte. Ich wollte zwar nicht, dass er in mein Leben eingriff, aber ich gab ihm die Erlaubnis, gegen meinen Willen zu handeln, auch wenn ich es dann nicht mehr wollen würde.

Und dann kam die große Befreiung. Eigentlich war alles wie immer. Es war nur ein weiterer Tag von vielen, an dem ich mich dazu zwang, mich mit meinen Freunden im Park zu treffen, nur um nicht mit mir allein sein zu müssen. Die Gespräche drehten sich, wie immer, um Leute und Personen, die gerade in unserer Gunst oder Missgunst standen – bis dann eine nebensächliche Bemerkung bezüglich meines Freundes fiel, die mir mal wieder klarmachte, dass ich ihn nicht für mich alleine hatte. Aber hatte ich mich nicht schon vor langer Zeit damit abgefunden? Eifersucht und Wut kamen wie gewohnt wellenartig in mir auf, aber ich hatte gelernt, diese Emotionen augenblicklich zu unterdrücken und zu vergessen. Doch diesmal nicht. Ich ging nach Hause und während des Rückweges ließ ich ihn gehen. Ein kurzes Ringen mit Gott um meinen Willen und dann war es vorbei. Ich musste ihn nicht mehr wollen. Ich musste nicht mehr kämpfen. Mein  Wille war gebrochen und nichts – auch keine Droge – fühlte sich besser an. Ich fühlte die ganze Schwachheit und all die Schmerzen der letzten Jahre auf mich einbrechen, aber die Freude darüber, dass ich nach all den Jahren der Verkrampftheit und Drogenstumpfheit überhaupt wieder etwas fühlen konnte, überwog. Mein Eisherz begann langsam wieder zu schlagen, aber diesmal in einem gesunden und lebendigen Takt und ich hörte wie Gott mir die jahrtausendealten Worte zuflüsterte:

„Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Ich nehme das versteinerte Herz aus eurer Brust und schenke euch ein Herz, das lebt“ (Hesekiel 36, 26).

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