Vom Älterwerden ...

Menschen beim Altern zu beobachten fasziniert mich. Erst heute habe ich eine Person des öffentlichen Lebens gegoogelt, um mir Fotos von ihr von vor einigen Jahren anzuschauen. Um dann dabei darüber zu staunen, dass dies immer noch derselbe Mensch ist, obwohl das Äußerliche sich immer stärker verändert. Auch bei mir selbst nehme ich diese Veränderungen nach und nach wahr, mit einer Mischung aus Beklemmung und Faszination. Dass man sich in der Kindheits- und Jugendphase äußerlich stark verändert – geschenkt. Doch dass Veränderung auch als Erwachsener geschieht und in Wahrheit ein lebenslanger Prozess ist, daran muss ich mich immer noch gewöhnen.

alter(c) bilderstoeckchen – Fotolia.com
Es ist mir noch in guter Erinnerung, wie ein in etwa gleichaltriger Freund sich einmal über sein Älterwerden beklagte: „19 Jahre ist ein blödes Alter. Mit 19 bist du fast 20 und mit 20 gehst du auf die 30 zu… .“ Inzwischen haben wir beide die 30 erreicht. Und auch jetzt treffe ich auf markante Sätze, so wie den meines Großvaters anlässlich meines letzten Geburtstags: „Jetzt bist du im Vollbesitz deiner Kräfte und darfst die Aufgaben erfüllen, die Gott dir zugedacht hat.“ Wie bestimmte Lebensphasen bewertet werden, kann also ganz unterschiedlich aussehen. Es hängt von der Perspektive ab, aus der man eine bestimmte Phase in den Blick nimmt. Die Sehnsüchte und unerfüllten Wünsche von heute können auf die wie im Nu verflogene Vergangenheit oder auf die noch im Dunst verhüllte Zukunft projiziert werden.

In der Tat erleben wir, dass es ganz unterschiedliche Weisen gibt mit dem Älterwerden umzugehen. So reizt besonders in der Studienzeit die Aussicht auf Möglichkeiten der Mitgestaltung in Beruf und Gesellschaft, vielleicht auch die Aussicht auf lang ersehnte Privilegien, ein Gehalt, ein selbstgestaltetes Leben, oft auch mit Partner/in oder Familie. Doch gibt es nicht nur solch positiven Ansporn im Leben vorwärts zu gehen. Daneben – und z. T. das Positive überlagernd – geht die Aussicht aufs Älterwerden bei manchem mit einem sorgenvollen Blick einher. Der Wunsch einen guten Abschluss zu machen, eine gute Arbeit zu finden, finanzielle Unabhängigkeit sowie den/die „richtige/n“ Partner/in entspringt manchmal auch dem Druck das Leben gelingen lassen zu müssen.

Das Leben will gelebt werden

Seit wenigen Jahren kenne ich Anflüge von Traurigkeit und Nostalgie, wenn ich über mein Alter nachsinne. Seit der Masterabschluss in der Tasche und der Berufseinstieg geglückt sind, tauchen auf einmal Fragen auf, wie: „Wo sind denn auf einmal die unbeschwerten Jugendjahre hin?“ Die Freude auf die Zukunft, die wie ein mit den Hufen scharrendes Fohlen darauf wartet endlich aus der Umzäunung in die Freiheit entlassen zu werden, ist doch recht schnell der Ernüchterung gewichen. Die Feststellung „The future is now!“ kann einschüchtern, wenn man merkt, dass die Gestaltung der lang ersehnten Zukunft erhebliche Herausforderungen mit sich bringt. Das Leben will gelebt werden – und gerade in Zeiten kaum begrenzter Möglichkeiten setzt es mich unter Druck diejenigen Optionen auszuwählen, die mir auch im Nachhinein Zufriedenheit über meine damals getroffenen Entscheidungen versprechen. Und eine Ahnung steigt in mir auf, dass die empfundene Unbeschwertheit der Vergangenheit nicht von Dauer sein kann, dass ich herausgefordert bin Verantwortung zu übernehmen für mich und andere, und dass unser Zusammenleben auch von mir mitgestaltet werden muss und wird. Doch womit? Und wofür? Wie soll das von mir mitgestaltete Leben aussehen? Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard schrieb diesbezüglich: „Wenn menschliches Leben nicht im Dämmerschlaf des Nichtstun veröden noch in hektischer Betriebsamkeit vergeudet werden soll, dann muss es von etwas Höherem angespornt werden.“(Philip Yancey: „Die Bibel, die Jesus las“, S. 162)

Das Trauma des Alterns

Die Verklärung der Vergangenheit, die das Potential hat uns zu lähmen, gepaart mit der empfundenen Last der Verantwortung für Gegenwart und Zukunft ist ein möglicher Grund dafür, dass uns das Älterwerden Mühe bereitet. Ein weiterer scheint mir darin zu liegen, dass wir – trotz alles rationalen Wissens um die Begrenztheit des biologischen Lebens – Schwierigkeiten haben Vergänglichkeit zu akzeptieren. Wie alle Lebewesen sind wir unweigerlich dem Verfall unterworfen – nur tun wir einiges um diese Erkenntnis lange hinaus zu zögern oder aber dieser Tatsache ein Schnippchen zu schlagen: Volle Fitnessstudios, Regale gefüllt mit Anti-Falten-Cremes, 80er- oder 90er-Jahre-Partys usw. helfen uns dem Trauma des Alterns zu entfliehen und in der Illusion zu schwelgen, wir könnten Vergänglichkeit beeinflussen. In den Anflügen von Bitterkeit, die sich bei ernsthaftem Nachdenken über die Prozesse des körperlichen und später auch geistigen Abbaus breit machen können, schwingt eine tiefe Sehnsucht mit: Die ernüchternde Erfahrung von Vergänglichkeit lässt das Verlangen nach Unvergänglichem umso stärker hervor treten. Doch worin dieses Unvergängliche bestehen soll, bleibt unklar. Der im Sport und z. T. in der Politik viel beschworene „Eintrag in die Geschichtsbücher“ kann die menschliche Sehnsucht auf Dauer letztlich auch nicht befriedigen.

Gleichgültigkeit, Angst und Vorfreude

Doch da das Leben nicht so lange auf uns wartet, bis wir die Frage für uns zufriedenstellend geklärt haben, müssen wir uns mit den Tatsachen des Älterwerdens und der damit verbundenen Vergänglichkeit irgendwie arrangieren. Ich nehme hier drei Grundtendenzen war: Gleichgültigkeit, Angst und Vorfreude. Gleichgültigkeit versucht die bittere Erfahrung des Verfalls so gut es geht zu ignorieren. Sie schwelgt oft in der Vergangenheit und genießt die Freuden der Gegenwart, ohne sich gedanklich mit dem unvermeidlichen Niedergang des eigenen Lebens groß auseinander zu setzen. Warum auch? Man kann ihn ja sowieso nicht verhindern.

Die zweite Grundtendenz – Angst – weicht den Gedanken an die Zukunft nicht aus, findet aber keine positive Einstellung zu ihnen. Diese Tendenz korrespondiert mit dem oben beschriebenen sorgenvollen Blick auf die Zukunft, welcher durch einen empfundenen Druck das Leben „gut“ leben zu müssen gespeist wird. Angst vor der Zukunft und dem eigenen Älterwerden ist der Schlüssel für das Geschäft der Versicherungen und ein Ausdruck unserer Gesellschaft: Sie kennt individuelle Freiheit als ihr höchstes Gebot und hat dafür die Abhängigkeit von anderen Menschen gegen die Abhängigkeit von Staat und der eigenen Leistung eingetauscht. Diese Angst führt – z. T. schon vor dem Berufseinstieg – dazu sich ausgiebig mit Renten-, Bauspar-, Lebensversicherungs- und anderen Verträgen auseinander zu setzen. Finanzielle Sicherheit scheint das A und O zu sein um das Älterwerden erträglich zu gestalten. Hinzu kommt später die Frage nach realen Beziehungsnetzwerken, Familie, Freunde (nicht so einfach in der globalisierten Welt) und vielleicht irgendwann Gedanken an gemeinschaftliches Wohnen im Alter, wie ein Mehrgenerationenhaus. Dies beschreibt die soziale Absicherung. Bildung im Wettbewerb des lebenslangen Lernens darf nicht vernachlässigt werden. Und hinzu kommt noch die Frage nach der Wohnlage, denn auch die Sicherung von Eigentum und körperlicher Unversehrtheit wird sehr wohl von uns in Betracht gezogen, wie auch das Milieu, in dem man sich wohlfühlt, und in dem die eigenen Kinder aufwachsen sollen.

Vorfreude auf das Älterwerden ist eine dritte Option. Sie muss sich nicht faktisch vom Handeln der von Angst Motivierten unterscheiden. Auch hier kann auf diverse Sicherungssysteme zurück gegriffen werden. Der Unterschied ist im anders gearteten Umgang mit Unsicherheit zu finden. Gleichgültigkeit gibt sich der empfundenen Schicksalhaftigkeit des Lebens hin; Angst weiß um die Unwägbarkeiten, versucht ihrer Herr zu werden und schafft es doch immer nur scheinbar. Vorfreude dagegen basiert auf einem Grundvertrauen. Neben der Begrenztheit des Lebens ist dem, der mit Vorfreude auf die Zukunft blicken kann, die Begrenztheit der menschlichen Absicherungen deutlich bewusst. Aber dieses Wissen schlägt ihn nicht nieder. Wie ist das möglich? Wie kommt es zu solch einer anderen Einstellung, was ruft dieses Grundvertrauen hervor? Und worauf richtet es sich?

Was soll mein Leben füllen?

Meine Erfahrung ist, dass dies neben allen Prägungen aus Kindheit und Jugend mit der Frage nach dem Lebensinhalt zusammen hängt. Wenn ich der vermeintlichen Absicherung der Zukunft so viel Raum in meinem Leben einräume, dass die Absicherung selbst zum Lebensinhalt wird, laufe ich Gefahr einen eigentlichen Lebensinhalt zu verpassen. Denn die Frage lautet nicht nur, wogegen ich mich absichern möchte, sondern auch wofür? Wenn ich in dieser quasi-Sicherheit leben kann, was soll dann mein Leben füllen? Dies ist die entscheidende Frage, die ich für mich geklärt haben möchte. Sie ist sozusagen Dreh- und Angelpunkt meiner Lebensgestaltung. Wenn ich weiß, wofür ich lebe, ordnen sich die Prioritäten meines Lebens. Wenn ich weiß, wofür ich lebe, kann ich Absicherungen treffen, mit deren Begrenztheit ich gut umgehen kann. Insbesondere trifft dies zu, wenn ich einen Weg finde mit der Begrenztheit des Lebens insgesamt umzugehen. Die Sehnsucht nach Unvergänglichem ist Teil unseres Lebens. Es gibt Momente in unserem Leben, in denen wir diese Sehnsucht ansatzweise gestillt bekommen. Beim Anblick majestätisch anmutender Berge, dem Blick – aus sicherer Entfernung – auf die tosenden Wassermassen des Rheinfalls, der Erfahrung körperlicher Nähe mit der/m Partner/in oder aber wenn Musik die Saiten unseres Herzens zum Klingen bringt. Jedoch bleibt nach solch erfüllenden Momenten stets auch die Erfahrung, dass die Erfüllung der Sehnsucht nach Unvergänglichem in dieser vergänglichen Welt zwangsläufig nicht von Dauer sein kann. Der englische Literaturwissenschaftler und Narnia-Autor C. S. Lewis war davon überzeugt, dass es kein Verlangen in uns gibt, was nicht das Potential hat gestillt zu werden. Ja, er war der Meinung, dass „irdische Freuden gar nicht dazu da [sind], dies Verlangen zu stillen, sondern eher, um es zu wecken.“( C. S. Lewis: „Pardon ich bin Christ“, S. 109-110) Ich für meinen Teil erlebe in all meiner Ernüchterung über meine Vergänglichkeit viel Trost in dem Glauben, dass ich in diesem Leben, in dieser Welt gerade kein ewiges Zuhause habe. Der Wert meines Lebens hängt nicht davon ab, was ich zurück lassen werde – und ob ich es erst mit 95 oder schon mit 45 Jahren zurück zu lassen habe. Wenn ich in meinem Nachdenken über die Zukunft keinen Fluchtpunkt habe, der außerhalb meines Lebens liegt, bin ich auf Gedeih und Verderb existentialistischen Verzweiflungsstimmungen ausgesetzt. Tiefen Sinn erfahre ich dann, wenn ich merke, dass mir dieser Sinn gegeben wird – und ich ihn nicht selbst hervorrufen muss. Ludwig Wittgenstein, Philosoph des frühen 20. Jahrhunderts, beschrieb es so: „An Gott zu glauben bedeutet zu verstehen, dass die Dinge dieser Welt nicht das Letzte sind. An Gott zu glauben bedeutet zu verstehen, dass das Leben einen Sinn hat […]. Dieser Sinn liegt nicht im Leben selbst verborgen, sondern außerhalb.“ (Philip Yancey, „Die Bibel, die Jesus las“, S. 168.) Gegeben werden kann mir dieser Sinn also nur von außen, z. T. transportiert über die Liebe, die ich von Eltern und Freunden erfahren durfte. Wenn unsere Sehnsucht nach Unvergänglichem tatsächlich über unser Leben hinausreicht, und wenn sich in dieser Sehnsucht schon ihre endgültige Erfüllung nach unserem irdischen Ableben ankündigt, dann kann ich mit viel Zuversicht nach vorn schauen. Und dann weicht meine Beklem-mung in Anbetracht des Älterwerdens umso mehr der Faszination. Zu Altern bringt mich dem Ziel näher. Der Weg ist nicht das Ziel. Das Ziel ist auch nicht im Weg. Der Weg ist der Weg. Und das Ziel ist das Ziel. Deshalb will ich immer weniger dem Vergangenen nachtrauern und mich stattdessen immer mehr über mein Älterwerden freuen – und dem Ziel fröhlich entgegen gehen.

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