Kleines Solo

Erich Kästners Gedicht „Kleines Solo“ erschüttert. Schlicht und brutal beschreibt es eine existentielle Erfahrung, die mancher nur zeitweise macht, die anderen aber zu einer täglichen Last wird. Gefangen in uns, schreien wir nach wahrhaftigen Begegnungen. Die Enttäuschung kann sehr schmerzlich sein. Ein Versuch, diesen Schrecken in eigene und fremde Worte zu fassen.


Solo600© Bärbel Taubitz – pixelio.deKleines Solo (1947)
Erich Kästner

Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.

Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Musst erfahren,
daß es nicht die Liebe ist ...
Bist sogar im Kuss alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.
Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


Allein in der Studentenbude. Zurückgekommen von einem geselligen Abend. Jetzt nur noch ich. Der Schreibtisch, der Stuhl, das Bett. Starr, tot stehen sie da. Blicken mich leer an. Ich rücke den Stuhl zurecht. Er kratzt über den Boden. Dann ist es wieder still. Der Stuhl bleibt stumm. Alles um mich schweigt mich an. Nur noch ich. Ich blicke aus dem Fenster. Dahinter Mauern. Millionen Eingemauerte, die Herzen brennend vor Einsamkeit. Wie ich. Wilder Hunger nach Menschen. Ich will mich wieder in den Trubel stürzen, schreie nach der Zuwendung der anderen. Will spüren, dass ich nicht gleichgültig bin. Bedeutung habe. Jemanden in meine Seele blicken lassen, mich nicht nur selbst ertragen. Und dann will ich mich vergessen. Mich auflösen zwischen den anderen. Weg von mir.

Ach, ich brauche Liebe.
Doch ich bin einsam.
Sehr alleine.

Wir sitzen beieinander. Man schiebt sich Sätze zu. Wir reden – und schweigen uns an. Du bleibst in deiner Welt. Ich in meiner. Leere Worte klatschen an die Mauern, fallen herunter, bleiben leblos liegen. Wir reden, um zu verbergen, dass wir nichts zu sagen haben. Jeder Satz schmerzt in seiner Belanglosigkeit. Du bist hier. Wir sind zu zweit. Das ist am schlimmsten. Die Einsamkeit - zu zweit. Und du, du mühst dich. Ziehst mit letzter Kraft die Brauen hoch, als würdest du erstaunt sein über meine Rede. Lächelst trocken, nickst verstehend. Und verstehst nur dich. Und bleibst bei dir. Wie ich. Der Durst ist quälender, wenn das Trugbild sich auflöst. Als ich allein war, hatte ich Hoffnung - dass dort draußen jemand mich erlöst. Ich bin auf dich zugerannt. Da erst sah ich deine Ketten. Und spürte, wie meine an mir rissen. So sitzen wir nun hier. Auseinandergekettete. An uns selbst festgeschmiedet. Lass mich allein, dann bleibt mir noch die Hoffnung.

Zu zweit – so verdammt einsam. Sehr alleine.
Wer wird uns erlösen?!
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.

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