Toleranz ist keine Götterspeise

Toleranz ist zu einem zentralen Wert unserer Gesellschaft geworden. Zu Recht, denn in einer zunehmend multikulturellen und heterogenen Gesellschaft sichert eine wohlverstandene Toleranz das gedeihliche Miteinander und den gesellschaftlichen Frieden. Aber was bedeutet eigentlich Toleranz? Das Bekenntnis, dass es nur „persönliche Wahrheiten“ oder Überzeugungen gibt und keine absoluten Wahrheiten? Eine Suche nach einem neuen alten Toleranzbegriff.


Toleranz2© M.R. Swadzba - Fotolia.com

Warum ist die Sache mit den religiösen Überzeugungen eigentlich so schwierig? Wir sind Demokraten. Wir sind frei und gleich. Jeder darf frei seine Meinung zu Promimenten, Politik und Kindererziehung vertreten und sich dafür stark machen.  Aber wenn es um religiöse Überzeugungen geht, sind wir plötzlich beklemmt und murmeln: „Privatsache …“ Irgendwie machen uns religiöse Überzeugungen Angst. Aber warum eigentlich?


Ein Grund dafür liegt in der Natur der Sache: Religiöse Überzeugungen sind tief verwurzelte Antworten auf die letzten Fragen im Leben eines Menschen. Woher komme ich? Wozu bin ich da? Welchen Sinn hat mein Leben? Was kommt nach dem Tod? Die Antworten auf solche Fragen und die Überzeugungen, die aus diesen Antworten entstehen, können Menschen dazu bringen, Unmenschliches zu leisten – im guten, aber auch im schlechten Sinne.

Religiöse Überzeugungen sind außerdem keine Meinungen, die man nach Belieben an- oder ablegt. Es geht bei diesen Überzeugungen um den Kern, um das, was trägt, wenn alles zusammenfällt. Es sind die Gedanken, die auftauchen, wenn man in Todesgefahr zu schweben glaubt, und die, die im größten Leid Trost und Mut spenden. Das kann alles Mögliche sein: Gott, das Nichts, das Geld, die Kinder, der Spaß, ich selbst – aber immer betreffen diese Überzeugungen unser Innerstes und die letzten Fragen. In diesem Sinne sind sie religiös – sie müssen geglaubt werden, weil sie weder widerlegbar noch beweisbar sind.

Wir wissen, bewusst oder unbewusst, um diese Besonderheit religiöser Überzeugungen. Darum reagieren wir gereizt auf alle Arten des Fundamentalismus. Dies geht so weit, dass wir intuitiv Gegenargumente suchen, wenn jemandes Meinung zu fest zu sein scheint. Bei religiösem Fundamentalismus ist es noch schwieriger, weil dieser zum Brandbeschleuniger für menschliches Verhalten werden kann und weil wir die Bilder, die er zur Folge haben kann, mittlerweile regelmäßig in den Medien sehen. Unsere Angst vor dem Fundamentalismus führt in unseren Breitengraden zu einer typisch „westlichen“ Gegenreaktion: dem Relativismus. Der äußert sich entweder in Desinteresse oder in einer Haltung, die mit aller Vehemenz behauptet: „Letztlich hat doch jeder recht!“ Das Problem an diesem Relativismus ist nicht der Relativismus an sich. Problematisch wird es, wenn wir diesen Relativismus „Toleranz“ nennen und ihn zur Grundlage des Dialogs machen. Solange von vornherein klar ist, dass alle irgendwie recht haben müssen, muss man keine Angst mehr davor haben, dass man unterliegen könnte. Oder davor, dass nur einer recht hat. Oder dass der Dialog aus den Fugen gerät.

Dieser Toleranzbegriff ist inhaltsleer. Er ist nicht tragfähig und erfüllt nur noch den Zweck, Dialoge angenehm zu machen. „Hauptsache, alle fühlen sich gut“ als Credo der hedonistischen und ängstlichen Gesellschaft. „Und was macht das mit dir?“ –„Nichts.“ Jede Diskussion verpufft in lauwarmer Luft. Am Ende geht man auseinander und hat nichts gewonnen. Grenzen werden zu Götterspeise - wabernd, nicht benennbar und aufgefressen von leeren Toleranzgöttern, die echte Diskussionen und das Ringen um Argumente scheuen. Es geht bei dem, was wir oben als religiöse Überzeugungen ausgemacht haben, aber nicht um Glibber, sondern um harte Fakten. Am Ende steht der „Tolerante“ da und schaut dem Intoleranten dabei zu, wie der tut, was er will – und was kann ich tun?

Ein neuer alter Toleranzbegriff

In einer Demokratie sind neben Freiheit und Gleichheit Konsens und Kompromiss fundamental. Zu beidem kommt man im Dialog. Was aber, wenn jemand nicht reden will und sich unter der Voraussetzung der „jeder-hat-recht-Toleranz“ nur derjenige bestätigt fühlt, der der Demokratie feindlich gegenübersteht, während der andere sich mit wohligem Gefühl ins Desinteresse verabschiedet? Wir brauchen ein neues Fundament für unseren demokratischen Dialog – wir brauchen einen neuen Toleranzbegriff.

Christen verweisen auf einen Begriff von Toleranz, der so alt ist, dass man ihn heutzutage wieder „neu“ nennen kann: den Toleranzbegriff Jesu Christi. Hier bedeutet Toleranz nicht „alle haben recht“. Er verweist vielmehr auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes (ertragen) und beschreibt die Haltung: „Ich habe recht, aber ich ertrage es, dass du anderer Meinung bist.“ Dieser Begriff von Toleranz führt entgegen unserem Unwohlsein angesichts seiner Klarheit, Ehrlichkeit und Nachdrücklichkeit nicht in den Krieg oder ins Chaos. Er führt in den Dialog, denn plötzlich kommen Positionen auf den Tisch. Nicht mehr die Furcht hat das Diktat und mit ihr der Relativismus, sondern der Standpunkt.

Dazu müssen wir uns über zwei Dinge klar werden. Zum einen müssen wir wissen, was wir denken und glauben. Hier wird das Thema Toleranz zu unser aller Angelegenheit. Die wenigsten Menschen wissen tatsächlich um ihren eigenen Standpunkt. Was glaube und denke ich eigentlich? Wer bin ich? Zum anderen müssen wir wissen, wie wir uns im Dialog begegnen können. Denn was geschieht ab dem Punkt, an dem die Positionen auf dem Tisch liegen?

In der Bibel lesen wir: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Johannes 3, 16). Auf dieser Tat Gottes bzw. seines Sohns, Jesus Christus, fußt der christliche Toleranzbegriff: Weil ich weiß, dass mein Gegenüber genauso geliebt ist und genauso dringend der liebevollen Zuwendung Gottes bedarf wie ich, erhebe ich mich über ihn nicht – unabhängig davon, was er oder sie glaubt oder nicht glaubt –, sondern ertrage ihn und sie in Liebe. In der Bibel erfahren wir auch, wie toleranter Dialog gelingen kann: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Matthäus 19, 19). Weil Gott mir zuerst gedient hat, indem er mich in Liebe erlöst hat und mir neue Hoffnung gab, kann ich in Freiheit und Nächstenliebe voller Respekt meinem Gegenüber dienen – und zwar wieder völlig unabhängig davon, was er oder sie glaubt oder nicht glaubt –, weil er und sie in Gottes Augen wertgeachtet sind. Wenn auf dieser Grundlage Standpunkte auf dem Tisch liegen und besprochen werden, ertrinkt man nicht in Götterspeise, ohne sich wirklich zu verstehen – hier geschieht Begegnung auf einem festen Fundament von Respekt, Wertschätzung und Anteilnahme. So kann Dialog gelingen. Ein Versuch ist unbedingt empfehlenswert.

Toleranz1© jr_casas - Fotolia.com

Das aktuelle Heft

Bedacht 11Versöhnung. Das ist ein großes Wort und für jeden von uns zu jeder Zeit eine Herausforderung. Wie kann das gehen – Versöhnt leben? Wir begeben uns auf die Spurensuche.

Heft lesen

Werde Sponsor!

Deine Spende an die bedacht ist ein Stipendium für die Gute Nachricht. Deine Unterstützung fließt dabei vollständig in die Produktion der bedacht. Da wir ehrenamtlich arbeiten, fallen bei uns keinerlei Personalkosten an.

spenden


Folge der BEDACHT auf Facebook!      Folge uns auf Twitter!
DMC Firewall is a Joomla Security extension!