Beistand, wenn alles zerbricht

Wenn das Leben nach einem Unglücksfall kopfsteht, wenn ein naher Angehöriger plötzlich verstirbt oder man selbst nur knapp einen Unfall überlebt, dann können Notfallseelsorger durch die ersten Stunden helfen. Siegfried Weber ist einer von ihnen. Der evangelische Pfarrer aus Karlsruhe gründete 2000 die dortige Notfallseelsorge und leitet sie zusammen mit einem katholischen Kollegen bis heute.

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Bedacht:  Herr Pastor Weber, wie sind Sie zur Notfallseelsorge gekommen?

Siegfried Weber: Als ich im Jahr 2000 Gemeindepfarrer in Karlsruhe-Hagsfeld wurde, war Notfallseelsorge schon ein Gesprächsthema in den Karlsruher Pfarreien. Seelsorger mit Kontakten zur Feuerwehr wurden bereits immer wieder mal zur Unterstützung bei

Unglücksfällen gerufen, allerdings ohne dass es dafür eine feste Struktur gab. Da habe ich mir gedacht: Jetzt oder nie. Innerhalb von zwei Jahren wollte ich eine Notfallseelsorge in Karlsruhe aufbauen. Ich habe mich mit Leuten von Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten zusammengesetzt, die das Vorhaben alle gut fanden. Gemeinsam haben wir dann überlegt, welche Schritte dafür zu gehen sind.

Notfallseelsorge Karlsruhe

Ungefähr 30 Mitarbeiter gehören zur Notfallseelsorge. Zum Teil arbeiten sie in kirchlichen Berufen, beispielsweise als Pfarrer oder Religionslehrer. Der überwiegende Teil der Notfallseelsorger stammt aus anderen Berufen, vom Hausmeister über die Verwaltungskraft bis zur Lehrerin oder Psychologin. Alle Mitarbeiter müssen eine seelsorgerliche Grundausbildung absolvieren und ein hohes Maß  an Selbstreflexion mitbringen. Dann absolviert jeder Mitarbeiter noch eine Spezialausbildung für die Notfallseelsorge. Dazu gehören vor allem Kenntnisse der Einsatzstrukturen bei Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst sowie der Umgang mit den unterschiedlichen Seelsorge-Situationen.

Auch die katholische Kirche haben Sie mit ins Boot geholt.


Ja, genau. Es war uns wichtig, das Projekt auf ökumenische  Füße zu stellen. Nach sechs Monaten Planung kam der katholische Pastoralreferent hinzu. Durch ihn konnten die katholischen Gemeinden in Karlsruhe und aus deren Reihen viele Mitarbeiter für die Notfallseelsorge gewonnen werden. Nach 18 Monaten fingen wir dann endlich mit der praktischen Arbeit an. In Baden-Württemberg ist bei Notfällen je nach Situation als Erstes die Feuerwehr oder die Polizei zuständig. Deren Strukturen haben wir uns dann angeschlossen.

Ökumene

Die Ökumene hat das Ziel, die Einigkeit der verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen (katholisch, orthodox, evangelisch, freikirchlich etc.) durch Dialoge und Gebete wieder herzustellen.

In welchen Situationen werden Sie als Notfallseelsorger gerufen?

Die Einsätze sind sehr unterschiedlich. Es können schwere Verkehrsunfälle sein, plötzliche Todesfälle in der Familie, Suizide oder Verbrechen. Am häufigsten werden wir in Fällen erfolgloser Reanimation gerufen. Außerdem begleiten wir Polizisten beim Überbringen von Todesnachrichten.

Bei den meisten Einsätzen sehen wir kein Blut. Es handelt sich häufig um Todesfälle, die zu Hause geschehen. Natürlich gibt es auch schlimme Bilder, beispielsweise wenn wir zu Suiziden oder Unfällen im Zugverkehr gerufen werden. Das ist aber eher selten der Fall.
Weil alle ehrenamtlich arbeiten, ist es oft schon eine Herausforderung,  dann alles stehen und liegen zu lassen. Wir fahren mit dem eigenen Auto dorthin und wissen nie, was uns genau erwartet, weil die Einsatzbeschreibungen oft sehr allgemein sind.

Und wie sieht so ein Einsatz dann konkret aus?

Die Betroffenen sind meist in einem Schockzustand, wie ein Computer, der sich aufgehängt hat. Ich lasse sie dann erstmal erzählen. Mein Ziel ist es, sie zu schönen Erinnerungen zurückkehren zu lassen. Einige kann ich leider nicht erreichen. Sie stehen zu tief unter Schock oder wollen schlicht keine Hilfe. Wenn man da im Gespräch merkt, dass jemand anders vielleicht besser helfen könnte, dann versuchen wir, einen anderen Notfallseelsorger nachzualarmieren. Glücklicherweise gibt es nur sehr wenige Einsätze, bei denen man mit dem unguten Gefühl rausgeht: „Das ist jetzt nicht gut gelaufen.“

Wenn wir die Menschen erreichen, ist richtig zu spüren, wie sie aus dem Schock heraus wieder einen Schritt ins Leben machen. Sie werden wieder handlungsfähig und können beginnen, zu trauern. Meine Einsätze sind nach zwei bis vier Stunden beendet. Trauerarbeit selbst dauert viel länger, wir können helfen, durch die ersten Stunden zu kommen.

Was geschieht danach mit den Betroffenen?

Wir legen großen Wert darauf, dass die Menschen in einer solchen Situation nicht allein gelassen werden. Gibt es Angehörige oder Freunde, bei denen sie bleiben können? Kann jemand zu ihnen nach Hause kommen? Wenn das geklärt ist, kann ich mich verabschieden.

Es gibt neben der Notfallseelsorge die Trauerarbeit. Wo liegen da die Unterschiede?

In der ersten Schocksituation ist es am wichtigsten für die Betroffenen, dass ihnen jemand beisteht, in einer Welt, die für sie gerade zusammengebrochen ist. Unsere Kernbotschaft ist: „Du bist nicht allein.“

Wie der Name sagt, ist die Trauerarbeit eine Art zu arbeiten. Man begleitet die Trauernden auf dem langen Weg aus ihrer Trauerspirale hinaus, wenn sie mit der Frage kämpfen: „Wie kann ich mit diesem Verlust leben?“

Kommt der Glaube bei Ihren Einsätzen zur Sprache?

Bei Betroffenen taucht oft die Frage auf: Warum lässt Gott das zu? In der Notfallseelsorge geht es aber nicht um einen theologischen Diskurs. Die Zeit für diese Frage kommt irgendwann auch, aber nicht im ersten Schock.

Ich glaube, dass Gott auch in diesen Situationen da ist. Glaube kommt dann in den Gesprächen vor allem durch das Gebet hinein. Es gibt kaum Einsätze, bei denen ich nicht für die Betroffenen bete oder einen Verstorbenen aussegne. Nur wenige lehnen es ab, dass ich für sie bete, auch wenn sie selbst nicht an Gott glauben oder nur wenig mit dem Glauben zu tun haben. Ich bringe sie so in Gottes Nähe. Ich kann die Betroffenen in die Hände Gottes legen, wenn sie es selbst nicht können.

Ja! Man merkt, ob Menschen ein Fundament in ihrem Leben haben. Auch hier ist der Schmerz groß, aber es ist ein Halt da. Meist aber treffen wir auf Menschen, die wenig mit dem Glauben zu tun haben. Wir fragen auch nicht nach deren religöser Bindung, sondern nehmen sie an, wie sie sind.

Aussegnung

Verabschiedung des Verstorbenen am Totenbett oder Abschied nehmen von dem Verstorbenen durch Gebet oder Andacht

Wie gehen Sie mit den Erlebnissen in Ihrer Arbeit um?


Ich kann diese Arbeit nur aus meinem Glauben heraus machen. Sonst wäre ich schon verzweifelt. So bin ich sicher, dass Gott bei diesen Menschen ist, auch wenn ich ihnen nicht erklären kann, warum ein Unglück geschehen ist. Allein der Wille, helfen zu wollen, reicht bei dieser Arbeit nicht aus. Wenn man keine feste Basis hat, ist die Arbeit viel schwieriger. Außerdem benötige ich Zeit zum Entspannen und mal etwas ganz anderes zu machen. Wenn diese Phasen der Entspannung nicht da sind, kann man diese Arbeit auf Dauer auch nicht gut machen.

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Hören Sie nach den Einsätzen noch einmal von Betroffenen?

In der Notfallseelsorge gibt es in der Regel nur eine Begegnung. Einige Mitarbeiter haben sich aber anderweitig weiterqualifiziert, zum Beispiel als Traumaberater. Sie betreuen dann zum Beispiel Bankangestellte nach einem Banküberfall auch über einen längeren Zeitraum.

Normalerweise ist es aber besser, sich nicht noch einmal zu sehen. Für die Betroffenen ist unser Treffen mit der schlimmsten Zeit in ihrem Leben verbunden und eine erneute Begegnung kann sie in diese schlimme Zeit zurückversetzen.

Gibt es Einsätze, an die Sie sich selbst besonders erinnern?

Es gab einen Einsatz an einem Baggersee. Der Lebensgefährte einer Frau ist ertrunken. Ich denke ab und zu an diese Frau, wenn ich an einem Baggersee bin. Ich frage mich manchmal, was aus ihr geworden ist. Das belastet mich aber nicht. Auch an Einsätze, wo ich nicht an die Leute rankam, denke ich schon gelegentlich.

Was ist für Sie persönlich die Quintessenz Ihrer Arbeit?

In der Bibel steht in 2. Mose, Kapitel 3 über Gott. „Ich bin für euch da.“ Ich versuche einfach für Menschen in einer dunklen Situation da zu sein und ihnen gerade damit das Licht Gottes zu bringen. Ich verstehe meine Arbeit so wirklich als Dienst für Gott. Für mich persönlich ist es gleichzeitig auch ein tiefes Glaubenserlebnis und eine erfüllende Tätigkeit. Ganz oft fahre ich mit dem Bewusstsein nach Hause: Deswegen bin ich Pfarrer geworden. Das ist es, was ich mit dieser Aufgabe verbinde.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

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