Ich oder Er?

Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung, Selbstdarstellung... Im „Höher, Schneller, Weiter” unserer Gesellschaft nimmt das Selbst einen zentralen Platz ein. Das Streben nach maximalem Erfolg, Ansehen und Gewinn scheint zum Lustprinzip in der heutigen Zeit geworden zu sein. Doch sind diese Ziele wirklich erstrebenswert?

Fotolia 54418254 XL© K.-U. Häßler – Fotolia.comSelbstverwirklichung und der Gott der Bibel scheinen sich unversöhnlich gegenüberzustehen. Aber warum eigentlich? Hat Gott wirklich ein Problem mit seinem Bodenpersonal – mit Christen, die sich selbst verwirklichen? Um das herauszufinden, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man fragt Gott persönlich – Christen nennen das Beten – oder man liest in der Bibel nach. Aus christlicher Perspektive ist die Bibel das geschriebene Wort Gottes – geschrieben von Menschen, die er in besonderer Weise inspiriert hat. Wenn man wissen möchte, was Gott zu einem bestimmten Thema denkt, ist man gut damit beraten, hier nachzuschlagen. Und genau hier begegnet uns im Johannesevangelium ein Satz, der nicht nur Aufschluss über die Frage „Ich oder Er?“ gibt.  

Er erzählt uns die größte Geschichte von allen.
„Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 16).

Dieser Satz von Jesus enthält die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens, die größte Geschichte von allen: Wir wurden in eine perfekte Beziehung hineinerschaffen, in einen Tanz aus Liebe und Hingabe, von einem Gott, der selbst Liebe und perfekte Beziehung ist. Voller Misstrauen wandten wir uns von ihm ab und die Beziehung zerbrach. Um sie wieder herzustellen, schickte Gott seinen eigenen Sohn, Jesus Christus, als Mensch auf die Erde. Durch seinen stellvertretenden Tod steht unsere Schuld nicht länger zwischen Gott und uns. Jeder, der dieses Geschenk Gottes in Jesus Christus annimmt, hat das ewige Leben. Der Satz aus dem Johannesevangelium zeigt deutlich, dass Selbstverwirklichung, im Sinne einer möglichst weitgehenden Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, Ziele und Wünsche, das Gegenteil dessen ist, worum es Gott geht. Schauen wir genauer hin:

Liebe
„Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 16).

Wir lesen zuerst, dass Gott die Menschen liebte – so sehr, dass er sein Kostbarstes für sie hingab. Ihm war das Wohlergehen der Menschen wichtiger als sein eigenes Wohlergehen. Diese aufopfernde und selbstlose Liebe ist für uns schwer zu begreifen. Sie steht unserem Denken im Kern entgegen. Viel zu häufig investieren wir selbst in unsere verbindlichsten Beziehungen nur dann, wenn sie uns unser Leben trotzdem in vollen Zügen auskosten lassen, wenn wir „wir selbst“ bleiben können. Scheidungsstatistiken und Umfragen zeigen deutlich, dass wir kaum noch bereit sind, harte Arbeit zu leisten, um kaputte Ehen zu retten. Wir wollen „größtmögliches Vergnügen bei geringstmöglichem Einsatz“ (Bill Hybels, 2010, Entfalte deinen Charakter, S. 122) und wir sind selten bereit, über unsere Bequemlichkeit hinaus Opfer zu bringen. Solange es uns gut geht, geht es dem anderen gut.

In der Welt Gottes liegen die Dinge genau andersherum. Nächstenliebe bedeutet: Solange es dem anderen gut geht, geht es uns gut. Der Fokus richtet sich nicht auf mich, sondern auf das Wohlergehen des anderen. Im Markusevangelium lesen wir Jesu Gedanken hierzu: „Wer unter euch groß sein will, soll den anderen dienen ... Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben“ (Markus 10, 43 und 45, Neue Genfer Übersetzung). Menschensohn war eine der Bezeichnungen, mit der Jesus sich selbst beschrieb). Gottes Charakter, sein Dienen, seine Liebe und seine bedingungslose Hingabe für uns ist der Maßstab für alles christliche Handeln von uns. Dieser Gottes-charakter wird in Jesus Christus deutlich und er wird uns zum Vorbild, indem Jesus sagt: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch” (Johannes 20, 12). Ein wesentlicher Zug in Gottes Charakter ist seine brennende Liebe zu den Menschen. Liebe bedeutet Hingabe an das Gegenüber, zu dienen und Opfer zu bringen. Das ist das Gegenteil von Selbstverwirklichung.

Selbstaufgabe
„Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 16).

Viele Autoren der Bibel (z. B. 1. Johannes 3, 18; Jakobus 2, 8, 14;1. Thessalonicher 1, 3; Galater 5, 6) betonen immer wieder den Zusammenhang zwischen Liebe und Handeln. Teil des Selbstverwirklichungsplans vieler Menschen ist eine gute Moral. Es gehört heutzutage zum guten Ton, Fairtrade-Produkte zu loben und hingebungsvoll auf das Elend in der Welt hinzuweisen. Daran ist nichts falsch. Aber es ist nicht das, wovon Jesus hier spricht. Selbstaufgabe geht darüber hinaus. Es bedeutet, sich – motiviert durch Liebe – selbst „zu verleugnen“, wie Jesus (Markus  8, 34, Übersetzung: Luther 1984) es umschreibt – und die Umsetzung in die Tat. Hierbei geht es sehr konkret um den Unterschied zwischen echtem Glauben und Illusion. Jemand kann zwar glauben, er könne fliegen, aber wenn sich dieser Glaube nicht in der Realität bewährt, ist er nichts als Illusion.

Dass Glaube nicht tatenlos bleiben soll, heißt nicht, dass gute Taten einen Menschen zum Christen machen. Christsein und – werden können wir uns wie eine Adoption vorstellen: Gott adoptiert uns wie ein Vater seine Kinder, weil er uns liebt (1. Johannes 3, 1). Gott regelt sozusagen alle rechtlichen Dinge bezüglich der Adoption für uns. Wir müssen nur zustimmen und in dem Bewusstsein leben, dass er uns angenommen hat. Beides – die Annahme und das Bewusstsein der Adoption sind uns durch Gottes Liebe geschenkt. Ein Mensch, der diese Adoption ablehnt, kann nicht durch gute Taten zum Christ werden.

Fotolia 40749622 XL© Monkey Business – Fotolia.comDarum ist die Vorstellung falsch, dass die Selbstaufgabe, von der Jesus spricht, dasselbe ist wie blinde Selbstaufopferung oder das Helfen, das ich tue, weil es mir selbst ein gutes Gefühl gibt. Konkret bedeutet das: Ein Entwicklungshelfer, der mit Kindern auf einer indischen Müllhalde lebt, ist möglicherweise genauso wenig christlich wie ein Manager, der sich selbst bereichert. Es geht um Selbstaufgabe aufgrund von Glauben und Liebe und dies ist das Gegenteil von Selbstverwirklichung.

Jesus
„Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3, 16).

Oscar Wilde lässt seinen hedonistischen Charakter Lord Henry triumphieren: „Ziel des Lebens ist Selbstverwirklichung. Das eigene Wesen völlig zur Entfaltung bringen, das ist unsere Bestimmung!“ (Oscar Wilde, 1891, The Picture of Dorian Gray). Hierin drückt sich ein wesentlicher Aspekt der Selbstverwirklichung aus: Es geht um mich. Wir sehen Egozentrik nicht mehr als Problem, sondern als Lösung. Der Mensch muss sich um sich selbst kümmern, sich selbst integrieren und sich selbst entfalten, erzählen uns Psychologen. Während wir das immer wiederkehrende Mantra unserer Gesellschaft hören: „Sei ganz du selbst“ und „Werde zu dem, der du wirklich bist“ – fordert uns Jesus dazu auf, jemand komplett anderer zu werden – jemand, der ihm ähnlich ist. Kein Mensch, so lesen wir in der Bibel (Römer 3, 9 ff.), ist von sich aus gut. Allein die wirkliche Erfahrung der Liebe Gottes verändert uns zum Guten. Wovon uns die Bibel erzählt, ist nicht ego-, sondern christozentrisch. Es geht um Jesus und das Vertrauen in ihn – nicht um mich. Christlicher Glaube ist das Gegenteil von Selbstverwirklichung.

Bedeuten diese Dinge, dass Gott nicht an mir persönlich interessiert ist und er unmenschliche Aufopferung von mir verlangt? Die Antwort finden wir in der Bibel: „Seht doch, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns schenkt! Denn wir dürfen uns nicht nur seine Kinder nennen, sondern wir sind es wirklich“ (1. Johannes 3, 16). Gott sieht uns nicht als Sklaven, sondern als Beziehungsgegenüber, als Kinder, die voller Vertrauen auf seine Güte hoffen dürfen. Beziehungen sind wechselseitig, hier geschieht ein Austausch und hier geschieht Veränderung. Aus dieser Beziehung heraus ergibt sich, wer wir sind. Im Lichte dieser Beziehung dürfen wir sein – mit all unseren Gedanken, Fehlern, Leiden, Talenten, Begabungen, Freuden und Befürchtungen. Selbstverwirklichung zielt darauf ab, jemand zu sein, der ich gern wäre. Auf einige Dinge wie Geld oder Zeit haben wir dabei keinen Einfluss. Auf andere Dinge scheinen wir Einfluss zu haben, weil sie unseren Charakter und unsere Persönlichkeit betreffen, aber letztlich scheitern wir an unserer Sehnsucht nach Perfektion und Annahme, weil wir merken, dass wir es nicht aus eigener Kraft heraus schaffen, jemand zu sein, der wir nicht sind. Wir wollen geliebt werden für das, was wir sind, nicht für das, was wir darstellen oder sein wollen. Liebe aber ist tatsächlich. Nur was wirklich ist, kann geliebt werden.

In der Gegenwart Gottes erkennen wir, dass sein Plan der beste Plan dafür ist, uns wirklich zu machen. Wirklich sind wir so, wie er uns meinte, nicht so, wie wir uns gern hätten oder wie wir am besten in die Gesellschaft passen würden. Weil Gott ist, wer er ist, dürfen wir sein, wer wir sind. Er geht mit Liebe und Gnade auf uns zu und reicht uns seine Hand. Was für ein Plan, was für ein Gott!
 

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