Bin ich erwachsen?

Vor Kurzem bin ich 25 Jahre alt geworden. Ich hatte gerade ein Bachelor-Studium abgeschlossen und war umgezogen, um das Studium an einer anderen Universität fortzusetzen. Dort stand ich nun mit meinen neuen Freunden und Kommilitonen in einer Runde und fragte mich in den Lärm der Feiernden hinein: „Bin ich jetzt erwachsen? Sind meine Altersgenossen erwachsen? Warum brauchen Mitte-20er so lange, um erwachsen zu werden? Und überhaupt: Wann ist man erwachsen?“

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Ende 20 und daheim bei Mutti?

Fernsehsendungen und Zeitungen sind voll von diesem Phänomen. Die BBC, die New York Times, die Welt, Die ZEIT, die Washington Post, die FAZ – sie alle fragen, was da los ist. „What Is It About 20-Somethings?“ titelte die New York Times im August 2010 und erzählt, den Zeitgeist aufgreifend, von einem jungen Blogger, der es mit Mitte 20 nicht schafft, einen vernünftigen Job zu finden. Oder von einem Akademiker, der promoviert und anschließend wieder bei seinen Eltern einzieht und sein Zertifikat an die Wand seines alten Kinderzimmers nagelt.

Es passiert überall: Junge Leute ziehen nach dem Studium wieder bei ihren Eltern ein, haben Schwierigkeiten, ein eigenes Leben aufzubauen und brauchen allgemein länger, um erwachsen zu werden. Die New York Times belegt dies anhand einiger Zahlen:

- Ein Drittel aller Menschen in ihren 20ern zieht jedes Jahr in eine neue Wohnung.

- 40 Prozent ziehen zumindest einmal wieder bei den Eltern ein.

- Sie haben im Durchschnitt sieben verschiedene Arbeitsstellen zwischen 20 und 30 Jahren.

- Zwei Drittel leben zumindest einen Teil der Zeit unverheiratet mit einem Intimpartner zusammen.

- Geheiratet wird später denn je: In den 1970er Jahren lag das Durchschnittsalter noch bei 21 für Frauen und 23 für Männer; 2009 war das Durchschnittsalter auf 26 bei Frauen und 28 bei Männern gestiegen – innerhalb einer Generation also um fünf Jahre.


Traditionell haben Soziologen fünf „Meilensteine“ festgelegt, die als „Übergang zum Erwachsensein“ galten: Schule abschließen, Elternhaus verlassen, finanziell unabhängig werden, heiraten, Kinder haben. 1960 hatten 77 Prozent der Frauen und 65 Prozent der Männer alle fünf Meilensteine passiert, bevor sie 30 Jahre alt wurden. Im Jahr 2000 war die Zahl auf unter 50 Prozent für Frauen und gerade auf ein Drittel bei den Männern gefallen. Die BBC fragt darum, ob sich der Übergang zum Erwachsensein generell verschoben habe: „Is 25 the new cut-off point for adulthood?“

Der amerikanische Pastor Mark Driscoll fasst diese Entwicklung mit den Worten „The world is filled with boys who can shave“ zusammen. Gab es einst die zwei Phasen Junge und Mann bzw. Mädchen und Frau, so haben wir inzwischen eine Phase dazwischen: „emerging adulthood“, wie der Professor für Psychologie Jeffrey Jensen Arnett sie bezeichnen will.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind umstritten: Die Kinderpsychologin Laverne Antrobus hält das langsame Erwachsenwerden für einen ganz natürlichen Prozess. Aktuelle neurowissenschaftliche Forschung zeigt uns nämlich, dass die Gehirnentwicklung bis etwa zum 25. Lebensjahr andauert. Und erst, wenn die Gehirnentwicklung vollständig abgeschlossen ist, erlangen wir Menschen laut Antrobus unsere volle emotionale Reife, Urteilsfähigkeit und ein stabiles Selbstbild. Demnach wäre das Phänomen der „emerging adulthood“ weder etwas Besonderes noch etwas Beunruhigendes, sondern Ausdruck der natürlichen Entwicklung des Menschen. Diese Ansicht beruht also auf der Annahme, dass das Erwachsensein durch biologische Prozesse definiert wird und zuerst ein bestimmter Entwicklungsstand des Gehirns erreicht werden muss. Aber in rein biologischen Kategorien zu denken, ist zu kurz gegriffen. Auch weil z. B. soziale Prozesse biologische Entwicklungen mitbeeinflussen könnten. So dürften manche dieser Verschiebungen als Nebenprodukt ökonomischer und kultureller Prozesse gelten. Genannt seien beispielsweise längere Ausbildungszeiten, weniger Einstiegsjobs mit niedrigem Qualifikationsniveau, weniger Bedürfnis unter jungen Leuten zu heiraten und eine allgemeine Optionsvermehrung für junge Menschen.

Entsprechend kritisch sieht der Soziologe Frank Furedi die oben dargestellte Interpretation des Phänomens „emerging adulthood“ als wesentlich biologisches Phänomen. Dies führe lediglich dazu, dass dieses Verweigern des Erwachsenwerdens legitimiert werde und dadurch Passivität und Unreife verstärkt würden. Und dies – gibt Furedi zu bedenken – könnte zu einer Infantilisierung der Kultur führen.

Nicht nur für die Gesellschaft, auch für den Einzelnen ist eine derartige Infantilisierung riskant. Denn dass viele es sich in der Phase der „emerging adulthood“ bequem gemacht haben, weiß die Marketing-Industrie auszunutzen. Menschen zwischen 18 und 34 sind ihr „sweet-spot“: Da gerade viele jungen Männer in diesem Alter nicht wissen, was es heißt, ein Mann zu sein, bietet ihnen die Marketing-Maschinerie alle Arten von Produkten an, um diese Leere zu füllen. Und anstatt die jungen Männer zu ermutigen, Produzenten zu sein, werden sie vornehmlich zu Konsumenten. Ist es schlimm, zu konsumieren? Nein, aber wenn Konsum überwiegt und das Verhalten dadurch bestimmt wird, wenn sich Adoleszenz und Passivität in die Länge ziehen und nach hinten hin nicht abgegrenzt sind, dann leidet das gesellschaftliche Zusammenleben nachhaltig darunter.

Wie wird man erwachsen?

Aber wie wird man erwachsen? Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: „Als ich noch ein Kind war, redete ich, wie Kinder reden, dachte, wie Kinder denken, und urteilte, wie Kinder urteilen. Doch als Erwachsener habe ich abgelegt, was kindlich ist“ (1. Korinther 13, 11). Aber dieses Ablegen dessen, was kindlich ist, fällt vielen nicht leicht. Es ist nicht schlimm, kindisch zu sein, wenn man ein Kind ist. Es ist sogar wichtig, dass das Kind einen Schonraum hat, in dem es Kind sein und sich frei entwickeln darf. Aber ein Erwachsener, der Kind bleiben möchte, wird zur Karrikatur seiner selbst. Erwachsenwerden, das bedeutet, immer weiter unsere Ebenbildlichkeit Gottes anzunehmen. Denn als sein Ebenbild hat uns Gott geschaffen (vgl. 1. Moses 1, 27). Das heißt, wir sind geschaffen, um zu schaffen, um zu produzieren, um zu kultivieren. Gott ist Schöpfer und Erhalter und Vollender, so bezeugt es die Bibel. Der Mensch soll ebenfalls kreativ sein, kultivieren und Aufgaben zu Ende bringen. Ich denke, hier liegt der Schlüssel zum Erwachsenwerden. Sehe ich mich als jemand, der Schöpfer (Künstler), Erhalter (Verwalter) und Vollender (Arbeiter) ist, werde ich anders leben, als wenn ich mich von Marketingexperten zum Konsumenten erziehen lasse.

Erwachsensein heißt: Verantwortung übernehmen

Diese Ebenbildlichkeit Gottes aktiv anzunehmen, bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – erst für mich: Ich ziehe zu Hause aus, lerne, die eigenen Rechnungen zu bezahlen und auf eigenen Füßen zu stehen. Später auch für andere: Ich gründe eine Familie, „schaffe“ etwas Neues, Kinder, und kultiviere dann die Familie. Es bedeutet, vielleicht einen sozialen oder diakonischen Dienst zu gründen oder zu unterstützen. Es heißt, sich in einer Kirche zu engagieren und anderen zu dienen. Es kann bedeuten, ein Unternehmen zu gründen oder verantwortlich zu führen und Jobs zu kultivieren. Wenn Jesus sagt, dass es das höchste Gebot sei, Gott und seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben (Matthäus 22, 34 – 40), dann spricht er von diesen Dingen. Er spricht nicht von einer Liebe, die nur ein Gefühl ist oder sich nur in schönen Worten zeigt. Er spricht von einer Liebe, die konkret Verantwortung übernimmt und durch reale Taten sichtbar wird: „... lasst uns einander lieben: nicht mit leeren Worten, sondern mit tatkräftiger Liebe und in aller Aufrichtigkeit“ (1. Johannes 3, 18).

Erwachsensein heißt also, ein Verantwortungsträger, ein Geber zu sein, nicht nur ein Nehmer: ein Produzent, nicht nur ein Konsument. Nicht den Weg des geringsten Widerstandes, sondern der größten Ehre zu gehen.

In Jesus Christus haben wir da ein starkes Vorbild: einen Mann, der das getan hat. Einen Mann, der den göttlichen Himmel verlassen hat, um uns Menschen zu zeigen, wie das Leben auf der Erde gedacht ist. Um zu heilen, was unheilbar scheint. Um Orientierung zu geben, wo Orientierungslosigkeit herrscht. Er hat Verantwortung übernommen: sein Leben hingegeben, um das Leben von schuldig gewordenen und verirrten Menschen zu retten. Martin Luther nannte das den „wunderbaren Tausch“ – unsere Ungerechtigkeit für seine Gerechtigkeit. Und dann gab Jesus sein Leben hin. Und dann merkt man: Christus ist eben mehr als ein Vorbild. Er war nicht ein Mann, der einfach nur hoch diszipliniert war, selbstlos, ein Menschenfreund, ein gehorsamer Jude, der sich an die Regeln hält. Er war Gott und hat aus Liebe Verantwortung übernommen. Wenn ich diese Liebe nun kenne, muss ich nicht mehr aus reinem Moralismus heraus Verantwortung übernehmen. Ich kann mich an dieser Liebe erfreuen und diese Freude wird mir die Kraft und Freiheit geben, Verantwortung für mich und andere zu übernehmen. Als Christ Verantwortung zu übernehmen, heißt nicht, neben all meinen Verpflichtungen als Student, Ehemann oder Ehefrau, Angestellter, Chefin oder Sportler jetzt auch noch Gott glücklich machen zu müssen, indem ich mich an alle religiösen Gebote halte. Es heißt, aus der Freude an Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbart hat, neue Perspektiven und neue Kraft für meine Aufgaben in der Gesellschaft zu finden.

Bin ich jetzt erwachsen – oder nicht? Ich bin 25 und habe noch nicht alle 5 Meilensteine passiert. Aber ich strebe an, alle zu passieren. Muss ich auf meine Biologie warten? Oder die Definition von Erwachsensein verändern? Oder die Altersgrenze nach hinten verschieben? Nein, in Christus habe ich eine Freude gefunden, die mich zuversichtlich Verantwortung übernehmen lässt.

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