Endlich wieder Zeit...
9 Uhr früh. Eine Hochschule in Hannover. Seit 24 Stunden ist Karolin wach. Sie schreibt an einer 20-seitigen Hausarbeit, die sie innerhalb eines Tages abgeben muss. Ihre Hände zittern. Auf dem Weg zur Hochschule kommen ihr immer wieder die Worte ihres Dozenten in den Sinn: „Gut. Nur so können wir die Berufswelt wirklich simulieren. Pragmatismus ist gefragt. Sie wollen doch was werden?“ Sascha sitzt und kreuzt an. Keinen Bingoschein, sondern wieder einmal einen Multiple-Choice-Test. „Wozu all diese Prüfungen?“, fragt er sich. Warum werden Karolin und Sascha diesem Stress ausgesetzt, der manche Studierende sogar in die Depression treibt?
Beschleunigung und globalisierte Welt
Die Flut an Prüfungen nimmt ihren Anfang in der Bolognareform. Das Ziel lautet: Studiendauer verkürzen, Studieninhalte internationalisieren, sich anpassen an die beschleunigte und globalisierte Welt. Nach dem Zeitsoziologen Hartmut Rosa befinden wir uns im Zeitalter der Beschleunigung. Die Mehrzahl unserer Zeitgenossen verweilen nicht mehr das gesamte Leben in einem Dorf, bauen keine Kartoffeln mehr an und melken keine Kühe mehr. Dank verschiedener Fortbewegungstechniken ziehen wir nach Hannover, um dort zu studieren. Am Wochenende fahren wir dann zu den Eltern nach Eistrup. Wir eilen mit dem ICE für ein Daft-Punk-Konzert von Göttingen nach Hamburg und jetten mit dem Flugzeug nach Brasilien, um dort die deutsche Fußballnationalmannschaft zu sehen. Statt uns in den Familienbetrieb einzugliedern, belegen wir einen dualen Studiengang in BWL oder bereiten uns für tausende Prüfungen in Medizin vor. Gleichzeitig sind wir bei Facebook, Youtube, Whatsapp online. Nach getaner Arbeit folgt das durchorganisierte Freizeitprogramm, das am Wochenende mit ein paar Partys ausklingt, um uns vom Leistungsdruck der Woche zu erholen.Die globalisierte Wirtschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, die uns dazu ermutigt, ist ein Teil dieser Beschleunigung. Sie hat sich von politischen Gebilden wie Königreichen oder Nationalstaaten emanzipiert. Weltweite ökonomische Märkte haben sich gebildet. Multinationale Unternehmen agieren durch immer schneller werdende Kommunikations-, Logistik- und Produktionstechnologien an verschiedenen Standorten weltweit. Wir genießen günstige Smartphones oder billige Baumwollpullover, die bisher leider ziemlich oft unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern entstanden sind. Die Verlierer sind meist die, die sich nicht wehren können.
Die Folgen – Psychische Erkrankungen und Vereisung des sozialen Klimas
Aber wir brauchen nicht erst in ferne Länder blicken. Viele Zeitgenossen interpretieren die Zunahme der psychischen Erkrankungen in Deutschland als eine Konsequenz der skizzierten Wandlungsprozesse. Nach dem DAK-Gesundheitsreport 2014 gehen 14,6% des Krankenstandes im Jahre 2013 auf psychische Leiden zurück. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen 2013 die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen weiter leicht an. Besonders in den Jahren 2005 bis 2011 wuchsen die Zahlen beträchtlich, so dass im Vergleich zu 1997 um 200% mehr Fehltage registriert werden mussten. Die Gründe liegen wohl am gestiegenen Zeitdruck und an der sich verdichtenden Arbeit, die mit anderen belastenden Phänomenen einhergehen. Je nach konkreter Arbeitssituation und -branche werden Verträge nur befristet geschlossen. Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit verschwimmen dank permanenter Erreichbarkeit. Mehr Flexibilität ist gefragt. Müssen wir uns wundern, wenn dadurch das Betriebsklima leidet und die Fehltage steigen? Der Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer spricht sogar von einer zunehmenden „Vereisung des sozialen Klimas“ und einer „rohen Bürgerlichkeit“. Menschen mit höheren Einkommen versuchen ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Vorrechte zu wahren, indem sie Arbeitslosen und Migranten stärker feindlich entgegentreten. Diese Abwehrhaltungen überraschen nicht wirklich. Denn nach dem Ökonom Rochus Troger produziert unsere beschleunigte und globalisierte Welt „Verlierertypen“ in allen Bevölkerungsgruppen.Neuroenhancer als Lösung?
Wie kann ich mich für den Wettkampf rüsten, ohne auf dem Abstellgleis zu landen? Soll ich mir einfach ein paar Psychodrogen einwerfen, sogenannte „Neuroenhancer“? Zum Beispiel duch Ritalin kann ich mich besser konzentrieren, lasse mich weniger ablenken, bin effizienter. Ritalin nimmt mir den Schlaf, den Hunger und den Durst, wie Kokain. Nur in geringer Konzentration, nicht berauschend, sondern ernüchternd. Ritalin lässt mich meine Umgebung vergessen. Gemeinsames Kaffee- oder Biertrinken, Filme schauen oder Fußballspielen können gestrichen werden. Nur noch der Lernstoff zählt. Dann schaffe auch ich Hausarbeiten in 12 Stunden, und Multiple-Choice-Tests werden zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Nur noch Leistung. Was für ein Traum. Aber will ich wirklich diesen Preis zahlen? Will ich auf Kreativität, Lust am Leben und an anderen Menschen verzichten, die durch einen anhaltenden Ritalin-Konsum verloren gingen? Will ich nur noch funktionieren?Till Eulenspiegel
Der Müßiggänger Till Eulenspiegel ist einer von denen, die andere Wege empfehlen. Dazu eine Anekdote: Eines Tages spaziert Till von einer Stadt zur nächsten. Ein Kutscher begegnet ihm und fragt hastig, wie man denn am schnellsten in die nächste Stadt käme. Till entgegnet: „Wenn Ihr langsam fahrt, dauert es wohl eine halbe Stunde. Fahrt Ihr schnell, so dauert es zwei Stunden, mein Herr.“ Der Kutscher schenkt ihm keinen Glauben und fährt eilig fort. Einige Zeit später sieht Till ihn in einem Graben liegen. Die Vorderachse des Wagens ist dahin. Kennen wir nicht diese Augenblicke oder Phasen in unserem Leben, wo wir uns im Nachhinein wünschen, nicht so eilig vorangeschritten zu sein?Der Sabbat – Gebot und Geschenk
Nicht erst Till Eulenspiegel, sondern bereits der Gott im Alten Testament der Bibel sprach sich für Entschleunigung aus. Nach sechs arbeitsintensiven Tagen voller Stress und Müdigkeit sollten die Juden am siebten Tag ruhen, wie es in den „10 Geboten“ überliefert wird. In folgenden Zeilen wendet sich Gott an die Juden: „Gedenke an den Sabbattag und heilige ihn! Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun; aber am siebten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes; da sollst du kein Werk tun; weder du, noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Knecht, noch deine Magd, noch dein Vieh, noch dein Fremdling, der innerhalb deiner Tore lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darin ist, und er ruhte am siebten Tag; darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und geheiligt“ (2. Mose 20, 8 ff). Der Begriff „Sabbat“ leitet sich von dem althebräischen Verb „ʃaˈbat“ ab, das im weiteren Sinne auch mit „aufhören, enden, ins Stocken geraten, ruhen von einer Tätigkeit“ und im engeren Sinn als „ruhen, den Sabbat halten“ übersetzt werden kann. Der Sabbat als Ruhetag soll an die Schöpfungsgeschichte erinnern, in der Gott am siebten Tag ruhte, nachdem er zuvor sechs Tage schöpferisch arbeitete. Darüber hinaus sollen die Juden an ihre Befreiung aus dem ägyptischen Sklavendienst sowie an ihren spezifischen Bund mit Gott erinnert werden.Der Sabbat beschränkt sich aber nicht nur auf die Entschleunigung. Das Ruhen begrenzt sich nicht nur auf jeden siebten Tag. In alttestamentlicher Zeit sollte jedes siebte Jahr auch das Land ruhen, damit es sich erholen und die weiteren Jahre wieder Nahrung bringen kann (3. Mose 25, 1 ff). Jedes 50. Jahr sollte das komplette Jahr geruht und zusätzlich der Besitz an die ursprünglichen Eigentümer zurückgeben werden, damit alle Juden sehen, dass sie „Gäste“ im Land Gottes sind, der der eigentliche Besitzer und Eigentümer ist (3. Mose 25, 8 ff).
Der Sabbat bezieht sich damit nicht nur auf die Ehrung Gottes und die körperliche und seelische Erholung der Menschen, sondern auch auf „Nachhaltigkeit“ und „Macht“. Das Land, die Mägde und Knechte sowie die domestizierten Tiere durften nicht einfach ausgebeutet werden, sondern hatten mehr oder weniger die gleichen Rechte am Sabbat wie ihre Landbestzer. Die Abhängigkeitsverhältnisse hatten ihre Grenzen darin, dass Gott der Herr über alle war. Damit war die Würde der Einzelnen nicht abhängig von der Willkür der menschlichen Eigentümer. Für Juden der alttestamentlichen Zeit war der Sabbat eine Verpflichtung, die bei Missachtung mit Todesstrafen und Zwangspausen einherging. Aus unserer gegenwärtigen Perspektive mögen diese Strafen unverhältnismäßig und brutal erscheinen. Jedoch kann behauptet werden, dass Gott sich damit den „Schwachen“ zuwendete, die sich nicht vor den „Starken“ schützen konnten. Die Landbesitzer bewegten sich somit auf keinem „freien“ Markt. Der Sabbat zähmte sie.
Wir können hier nicht ausführlicher auf das Für und Wider des Sabbats eingehen, jedoch können die Grundsätze, die durch den Sabbat symbolisiert werden, uns helfen, ein „nachhaltiges Leben“ im vielschichtigen Sinne zu leben.