„Der genialste Bettler von Deutschland“
„Vater Bodelschwingh“, „ weißer Revolutionär“, „der genialste Bettler von Deutschland“, „Legende zu Lebenszeiten“. Friedrich von Bodelschwingh prägte die evangelische Diakonie im 19. Jahrhundert wie wenige andere. Noch heute steht sein Name als Synonym für die Anstalten von Bethel. Aus einer Anstalt für Epileptiker mit geplanten 150 Plätzen formte er bis zu seinem Tod am 2. April 1910 eine Kleinstadt mit über 4000 Einwohnern und Platz für 2000 Kranke.
„Nehmen Sie in Gottes Namen mein Ja-Wort an…“. Mit diesen Worten akzeptierte der vierzigjährige Pastor Friedrich von Bodelschwingh 1871 die Anfrage des Rheinisch-Westfälischen Provinzialausschusses, der in Bielefeld ein Diakonissenhaus und eine Anstalt für an Epilepsie erkrankte Jungen betrieb. Der Sohn eines preußischen Adeligen und Ministers unter Kaiser Friedrich Wilhelm IV. war froh, seine derzeitige Wirkungsstätte verlassen zu können. Als Pastor der Gemeinde in Dellwig hatte er vier Jahre lang in vier Ortschaften gepredigt, Kranke besucht und Seelsorge betrieben. Doch mit dem Ort verbanden er und seine Frau Ida zu traurige Erinnerungen. Zwei Jahre zuvor waren ihre vier Kinder Ernst, Elisabeth, Friedrich und Karl innerhalb von wenigen Wochen an Diphterie verstorben. Nach mehreren Besuchen der Verantwortlichen und der Abwägung verschiedener Alternativen entschied er sich für die Leitung der vor vier Jahren gegründeten Anstalt.
Kaum hatte er seine Stelle 1872 angetreten, ging er mit ungebremstem Eifer daran, die Entwicklung der Einrichtung voranzutreiben. Denn in jeder Notlage wollte er Hilfe anbieten und den Menschen beistehen. Er sah in dieser Hilfe Gottes Lebensauftrag für ihn, dem er ohne Pause nachging. Schon nach wenigen Wochen hatte er den Vorstand der Einrichtung überzeugt, den geplanten Neubau des Diakonissenhauses von Bielefeld in die Nähe der Anstalt für Epilepsiekranke zu verlegen. Diese lag in einem Tal in der Nähe von Bielefeld. Dadurch schaffte er es, die Diakonissen direkt für die Versorgung der Kranken einzusetzen. Die Pflege und Betreuung der Kranken wurde auf Mädchen und Erwachsene ausgedehnt.
In den folgenden Jahren ließ ihn seine Rastlosigkeit nicht los. Angetrieben von einem Ideal des „Tatchristentums“ und dem Gefühl, keine Zeit verlieren zu dürfen, wuchs Bethel unter seinem Einfluss bis 1884 unaufhaltsam weiter. Neue Werkstätten, Bauernhöfe, auf denen die Kranken in familienähnlichen Kleingruppen lebten und arbeiteten, und weitere Gebäude wurden fortlaufend errichtet. Das Geld, das die Blutsverwandten für die Unterbringung ihrer kranken Angehörigen aufbrachten, reichte allerdings nicht aus, um die Kosten zu decken. Aber Bodelschwingh war ein Genie im Spendenwerben. Neben den großen Beträgen, die er durch seine Kontakte auch von der kaiserlichen Familie erhielt, sammelte er vor allem kleine Zuwendungen und baute so große Unterstützerkreise auf. Er gründete „Pfennigvereine“ und machte es zur Tradition, für jede Gabe schriftlich zu danken. Wenngleich er mit den Geldern sparsam wirtschaftete, ging er im Vertrauen auf Gott bei der Inangriffnahme von neuen Vorhaben große finanzielle Risiken ein.
Die Anzahl an Diakonissen und Diakonen nahm sprunghaft zu. Zu Beginn seiner Tätigkeit lebten 27 Diakonissen im Schwesternhaus. Zehn Jahre später waren es schon 263 Schwestern, die auf 83 Stationen ihren Dienst taten. 33 Jahre nach seinem Dienstantritt zählten 1056 Diakonissen und 378 Diakone, Hilfs- und Probebrüder zu Bethel. Sie stellten hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte dar, ohne die die große Expansion von Bethel nicht möglich gewesen wäre. Ihnen allen stand Friedrich von Bodelschwingh wie ein Patriarch vor. Er forderte von allen größte Hingabe und Aufopferungsbreitschaft. Auch sich selbst schonte er nicht, sei es in der Arbeit mit den Kranken selbst, der Verwaltungsarbeit und der Einwerbung für Spenden. Er arbeitete bis zur völligen Erschöpfung, wodurch er einen Schwächeanfall erlitt und zeitweise an den Rollstuhl gefesselt war.
Der „diakonische Großkonzern“ wuchs durch Bodelschwinghs Treiben immer weiter. Bei ihm liefen alle Fäden zusammen und häufig stellte er die übrigen Mitglieder des Vorstandes vor vollendete Tatsachen. Einer seiner Mitarbeiter, Karl Mörchen, beschrieb daher in einem Brief die Situation mit folgenden Worten: „Das jetzige Verhältnis ist nur möglich 1. dadurch, dass er ‚General von Bodelschwingh‘, 2. dass er der Schöpfer des Ganzen, alles ihm in die Hände hineingewachsen und auf den Leib zugeschnitten ist.“ Er, dem nichts schnell genug gehen konnte im Angesicht des vielen Elends der Wanderarbeiter, Kranken, „Geisteskranken“ und Bettler, ließ sich nicht durch Verwaltungsprozesse und Bürokratie aufhalten. Obwohl er im Auftreten immer herzlich und voller Hingabe blieb, war er dennoch hartnäckig und besaß ein so starkes Durchsetzungsvermögen, dass er seinen Willen durchsetzte. Diejenigen, die er immer wieder durch seine eigenmächtigen Entscheidungen vor den Kopf stieß, sprachen dennoch mit großer Hochachtung von ihm.
Während Bethel rasant weiterwuchs, widmete sich Bodelschwingh neuen Anliegen: der besseren Versorgung der Wanderarbeiter, die durch Enteignung ihre verschuldeten Höfe verloren hatten, und der Gründung von Arbeiterkolonien. Die vielen heimatlos gewordenen Wanderarbeiter wurden von den Gemeinden als Sicherheitsrisiko betrachtet und vertrieben. Eine obligatorische Arbeitslosenhilfe wie heute gab es noch nicht. Bodelschwingh setzte sich für die Schaffung eines flächendeckenden Netzes von Wegstationen ein. Dort konnten die Menschen schlafen, essen und sich mit Unterstützung nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten umsehen. Er folgte dabei dem Vorwurf und der inhärenten Aufforderung aus Matthäus 25, 43 („Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt“). Seit 1883 drängte er auf den Ausbau dieses Netzes. Eine angestrebte gesetzliche Verpflichtung für die Provinzen zum Unterhalt dieser Wanderarbeitsstätten blieb jedoch erfolglos.
Schon 1882 kaufte er in der Senne südlich des Teutoburger Waldes drei einsam gelegene Höfe, ließ sie bezugsfertig machen und gründete dort die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf. Dort konnten die Wanderer leben und arbeiten. Bodelschwingh ging nach dem Prinzip „Arbeit statt Almosen“ vor. Dies erklärt die aus heutiger Sicht sehr rigiden Vorschriften und Verhaltensregeln, die dort herrschten. Er verbot unter anderem den Konsum von Alkohol. Bodelschwingh hatte immer wieder miterlebt, wie Armut mit Alkoholmissbrauch Hand in Hand ging und ganze Existenzen zerstörte. Deshalb wollte er Ausschweifungen dieser Art auf jeden Fall vermeiden. Sozialdemokraten liefen dagegen Sturm und sahen darin nur eine „Knechtung der Arbeiterklasse“. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da Bodelschwingh und sie viele gemeinsame Forderungen, wie die paritätische Vertretung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Betrieben, stellten. Jedoch waren die Motivationen und die endgültigen Ziele dahinter sehr unterschiedlich. Die Sozialdemokraten sahen in dem herrschenden System eine Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Fabrikbesitzer und wollten dieser ein Ende setzen. Bodelschwingh sahen sie nur als Bewahrer dieser Ordnung und damit als „Klassenfeind“. Er hingegen wollte eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aus tiefer Glaubensüberzeugung erreichen.
In seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten verwirklichte Bodelschwingh das lang gehegte Ziel, ein theologisches Seminar in Bethel zu eröffnen. Ab 1898 führte er mit Hilfe einiger befreundeter Professoren „theologische Kurse“ in Bethel durch. 1904 gab der Kultusminister endlich die erhoffte Zustimmung zur Gründung einer „praktischen theologischen Schule“ lutherischer Prägung in Bethel. Die vorangegangenen Kulturkämpfe und die Angst vor der „Jesuitengefahr“, d. h. einem zunehmenden Katholizismus, gaben schließlich den Ausschlag.
Die Mission in Afrika war das letzte große Anliegen Bodelschwinghs. Wiederum angetrieben durch ein Gefühl der Dringlichkeit, holte er allmählich die Entscheidungsgewalt nach Bethel, nachdem er 1890 in den Vorstand der „Evangelischen Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika“ berufen wurde. Durch die große Anzahl an Diakonissen und Diakonen konnte die Missionsgesellschaft in größerem Umfang arbeiten. Von einem religiös überhöhten Nationalismus, der den Kolonialismus antrieb, ließ er sich nicht vereinnahmen. Vornehmlich kümmerte sich das Missionswerk um die Behandlung von Epileptikern, psychisch Kranken und freigekauften Sklaven. Wie sein Sohn Franz schrieb, „sah“ sein Vater „im Geist die Millionen verschmachtender Menschenseelen. […] Immer wieder stand ihm das eine fest: ‚Ich bin persönlich dafür verantwortlich und kann diese Verantwortung auf niemand anders abschieben.´“ Bodelschwingh selbst brachte es auf den Punkt: „Nicht so langsam, sie sterben drüber.“ Auch wenn die Bethel-Mission die Sprache, die Kultur und die Stammesstrukturen nicht verändern wollte, führte die Berührung mit der westlichen Zivilisation dennoch unfreiwillig zu tiefgreifenden Veränderungen der traditionellen afrikanischen Gesellschaft. In Bethel war die Mission im Inland und in Afrika sehr stark verzahnt. Immer wieder wurde mit dem sogenannten „Missionsneger“ für Spenden geworben. „Wirf´s fröhlich ein! Es trägt dir reichen Lohn“, lautete das Motto der Spendensammlungen. Durch Kampagnen wie „Brot für Steine“ wurde den Armen in Afrika ermöglicht, Geld zu verdienen und ihre Armut zu lindern. Bethel leistete durch seine Schulen und Krankenstationen wirksame humanitäre Hilfe in Afrika.
Als sei die Arbeit noch nicht genug, widmete sich Bodelschwingh an seinem Lebensabend noch der Politik. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit kämpfte er noch einmal für die Lösung der sozialen Frage. Sein Einfluss bei dem neuen Kaiser Wilhelm II. sank jedoch, je mehr dieser sich vom „sozialen Kaisertum“ abwandte. Da von dieser Seite keine Lösung zu erwarten war, wurde Bodelschwingh als parteiloser Kompromisskandidat verschiedener christlich-konservativer Parteien 1903 in den preußischen Landtag gewählt. Ihm ist es zu verdanken, dass ein Gesetz für die Wanderarbeitslosen verabschiedet wurde. Auch wenn das Gesetz wenig Schlagkraft entwickelte, wurde Bodelschwingh zu einem der Vorreiter für die spätere Sozialgesetzgebung und den Wohlfahrtsstaat in der Weimarer Republik.
Noch in seinen letzten Lebensmonaten setzte er sich unermüdlich für die unterdrückte indigene Bevölkerung in afrikanischen Staaten, zum Beispiel im Kongostaat, ein. In einem Jahr schrieb er mehrere Hundert Briefe an Entscheidungsträger, um auf die Not der Afrikaner hinzuweisen. Noch vor einem schweren Schlaganfall, den er am 30. März 1910 erlitt, diktierte er seiner Tochter einen Brief in dieser Angelegenheit. Am 2. April starb er schließlich an den Folgen seiner schweren Erkrankung. Als Lebenswerk hinterließ er eines der weltweit größten diakonischen Unternehmen, heute noch ein wichtiger Bestandteil unseres Sozialstaates. Sein ganzes Leben wurde er von dem Bibelwort bewegt, das auf seinem Grabstein steht: „Weil uns Barmherzigkeit widerfahren ist, darum werden wir nicht müde“ (2. Korinther 4, 2).