Identitätspuzzle
Studium, Nebenjob, Freunde – und immer nehmen wir verschiedene Rollen ein. Aber was bestimmt uns eigentlich, wie fügen sich diese Aspekte zu einer Identität zusammen?
Neulich war ich auf eine WG-Party eingeladen. Die Gastgeber waren Freunde von Freunden, was für mich bedeutete, dass mich gleich hinter der WG-Tür ein Meer mir unbekannter Gesichter erwartete. Um nicht allzu sehr aufzufallen, flüchtete ich mich in die relative Sicherheit des Buffets. Dort, in der entspannten Atmosphäre von Chips und Pizzabrötchen, ergaben sich erste Gespräche: Woher kennst du die Gastgeber? Wie heißt du? Was studierst du? Nach nur wenigen Sätzen konnten mein Gesprächspartner und ich uns gegenseitig einschätzen. Wir wussten, wer der andere ist. Oder?
Selfmade
Manchmal erinnern mich solche Szenen an ein Vorstellungsgespräch oder an ein Bewerbungsschreiben, in dem wir unsere, natürlich erfolgreiche Ausbildung auf knapp zwei Seiten zusammenfassen. Da werden Praktikumsnachweise sorgfältig ausgewählt, Lücken im Lebenslauf geschickt gefüllt und das Auslandsjahr als gewinnbringendes Networking verkauft. Schließlich soll der Personalchef davon überzeugt sein, dass ich perfekt für den Job bin. Und zwar nur ich. Das Individuum in der Masse der Bewerber. Er soll wissen, wer ich bin. Oder?Was macht uns aus?
Ich kenne nur wenige Menschen, die sich so sehr mit ihrem Arbeitsplatz identifizieren, dass er zu ihrer Berufung wird. Die meisten leben nicht, um zu arbeiten. Sondern sie arbeiten, um zu leben.Dabei differieren die Lebenskonzepte natürlich: Für den einen haben Familie und echte Freunde absolute Priorität, für die anderen ihr Volleyballteam und dessen Aufstieg in die nächste Liga. Und obwohl uns das universelle Streben nach Glück irgendwie vereint, unterscheiden uns doch unsere Hobbys und Prägungen, Neigungen und Träume, Ziele und Visionen. Die unmittelbarste Version unseres Selbst finden wir vielleicht im Internet: Was wir bei geschlossenen Türen und geöffneten Browserfenstern suchen, posten und liken, gibt wahrscheinlich einen tieferen Einblick in unsere Wünsche und Hoffnungen, als ihn die meisten unserer Freunde im realen Leben je nehmen könnten.
Trotzdem kennen uns gerade diese Menschen scheinbar am besten, schließlich teilen wir viele gemeinsame Erinnerungen. Sie sehen unser Tun und können so unser Verhalten einschätzen. Sie wissen, wer wir sind. Oder?
Vor ein paar Jahren habe ich bei einer Mitfahrgelegenheit „Boys“ von Jars of Clay gehört. Eine Zeile des Liedes ist mir im Gedächtnis geblieben: „Not to undermine the consequence – but you are not what you do.“ Unser Tun hat Konsequenzen, aber es bestimmt nicht, wer wir sind. Unsere Handlungen kontrollieren nicht unser Sein, sondern sie lassen einzelne Aspekte unserer Persönlichkeit sichtbar werden, sie zeigen die Leidenschaft des Fußballfans oder die Angst der Studentin vor der Klausur. Aber sie geben immer nur ein eingeschränktes Bild von der Person wider. Die Freude des Fans über das Fußballergebnis sagt nichts über seine Zukunftsängste; die Angst der Studentin gibt keinen Aufschluss über ihre Begabungen.
Grenzenlose Menschlichkeit
Auch die grundlegenden Grenzen des Seins sind schwer zu fassen. Anfang und Ende des Lebens werden seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert: Wissenschaftler und Ethikräte beschäftigten sich bereits vor den Fortschritten der Gentechnik und den Gesetzentwürfen zur Sterbehilfe mit der Frage, wann das Sein beginnt und wie weit Grenzen eines Menschenlebens gedehnt werden können.Unsere Gesellschaft ist geprägt von dem Wunsch, sich nicht von irdische Grenzen einschränken zu lassen und natürliche Gesetze außer Kraft zu setzen. Wahrscheinlich wurden nicht zuletzt deshalb Clark Kent und Bruce Wayne, Harry Potter und Bella Swan zu gefeierten Helden der Kinoleinwand.
Die Frage nach Sein oder Nichtsein beschäftigte Dichter und Denker in allen Jahrhunderten und scheint so alt wie die Menschheit selbst. Eine Quelle für Antworten ist der Glaube.
Christen glauben, dass ein allmächtiger Gott die Welt im Großen und den Menschen im Besonderen geschaffen hat. Der Mensch nimmt teil in diesem Zyklus von Leben und Sterben, Werden und Vergehen. Aber Gott geht noch weiter: Er haucht dem Menschen den Lebensatem ein. Christliche Theologen vertreten die Auffassung, dass hier das Sein des Menschen begründet wird: Er ist zwar Teil der vergänglichen Natur, er wird geboren, wird krank und stirbt letztlich. Aber gleichzeitig ist er auch für ein Leben geschaffen, das ewig weitergeht und nicht mit dem Tod endet. Mehr noch, der Mensch wird als Abbild Gottes bezeichnet, als Gegenüber, das nicht ebenbürtig ist, aber gewollt. Die Bibel beschreibt es mit den Worten „Er [Gott] hat alles vortrefflich gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er ihnen [den Menschen] ins Herz gelegt“ (Prediger 3, 11 – Schlachter). Hier wird also die Sehnsucht, das Sehnen und Suchen der Menschen nach mehr legitimiert. Der Wunsch nach Unsterblichkeit, nach Kraft und Gerechtigkeit gehört zum Wesen des Menschen dazu.
An dieser Stelle begründet sich eine neue Perspektive auf das Sein. Da werden die durchschnittlichen 80 Lebensjahre zur Ouvertüre für das eigentliche Meisterwerk.
Mutter Teresa, Bonhoeffer, du und ich
Was zunächst wie ein Elfenbeinturm der Philosophie erscheinen mag, war Lebensgrundlage bedeutender Frauen und Männer:Mutter Teresa war sich sicher, dass jeder einzelne Mensch einen unvergänglichen, gottgegebenen Wert hat. – So sicher, dass sie hinausging und ihr Leben damit verbrachte, Armen und Obdachlosen ihre Würde wiederzugeben.
Corrie ten Boom und ihre Familie waren überzeugt, dass es eine für jeden unumstößliches Norm von „richtig“ und „falsch“ gibt. Nach dieser Maxime lebten sie, egal, was in den von Nazis besetzten Niederlanden oder den Konzentrationslagern vorgeschrieben wurde: Sie versteckten jüdische Flüchtlinge und traten nach ihrer eigenen Deportation immer wieder für Menschlichkeit und Nächstenliebe ein, indem sie sich um Mitgefangene kümmerten und Bibelstunden hielten, in denen Raum für Gemeinschaft und Hoffnung geschaffen wurde.
Dietrich Bonhoeffer war gewiss, dass es in dieser Welt einen, seinen Platz gab, den Gott für ihn vorgesehen hatte. 1939 verließ der Theologe das sichere amerikanische Exil und die Aussichten auf eine vielversprechende akademische Karriere, weil er sich in seine deutsche Heimat berufen fühlte. Hier engagierte er sich im aktiven Widerstand und wurde am 09. April 1945 von den Nazis exekutiert.
Diese Menschen gingen in die Geschichte ein als Selige, Wegbereiter, Vorbilder – ihre Taten gründeten sich auf dem, was ihr Sein prägte.
Nun bleibt die Frage, was unser Tun und Sein bestimmt, was deine und meine Identität widerspiegelt. Es wäre doch genial, in all den spiegelnden Puzzleteilen unseres Lebens ein großes, geplantes Meisterwerk zu entdecken. Oder?