„Wunderbar gemacht“

„Sie sollten baldmöglichst kommen … Nein, Sie brauchen sich nicht mehr zu beeilen. Selbst wenn Sie fliegen würden, würden Sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen.“ Der Anruf aus dem Krankenhaus kam kurz vor 18 Uhr. Wir hatten ihn erwartet. Aber es war dennoch ein Schock, vor allem, weil wir nicht an ihrer Seite waren. Meine Schwester Paula war tot.

An diesem Wintertag endete Paulas Zeit mit uns, die dreizehn Jahre zuvor begonnen hatte. Es war eine harte und schöne Zeit zugleich. Und sie dauerte viel länger als alle Ärzte vorhergesagt hatten. Ich erinnere mich noch daran, wie ich sie das erste Mal im Krankenhaus gesehen habe, als meine Mutter und ich sie in B. besuchten. Sie kam als Pflegekind in meine Familie. Von einem Fenster aus sahen wir sie auf der Intensivstation. Durch die zwei Fensterscheiben konnte ich ihren zu kleinen Kopf mit den strubbligen Haaren sehen. Viel mehr konnte ich nicht erkennen. Wir blieben zwei Tage lang da. Noch konnten wir sie nicht nach Hause holen, da ihr Zustand dafür noch nicht stabil genug war.

wunderbar 600Kopie© Shuwal | Leuchtspur.at - photocase.dePaula hatte durch ihre Behinderung eine geschädigte Lunge und blieb ihr ganzes Leben lang wie ein Baby. Sie musste über eine Sonde ernährt und gewickelt werden. Lange konnten wir sie nur im Krankenhaus besuchen. Erst nach Monaten war sie so stabil, dass sie zu uns nach Hause kommen konnte. Der Alltag mit meiner Schwester war nicht immer einfach und kostete uns alle Kraft. Paula musste regelmäßig gewickelt und gefüttert werden. Immer wieder musste einer von uns den Schleim aus ihren Atemwegen absaugen. Man konnte sie nur kurze Zeit alleine lassen und musste immer ein Ohr bei ihr haben.

Als sie neun Jahre alt wurde, musste sie beatmet werden, da ihre Lungen nicht mehr kräftig genug waren. Unser Wohnzimmer wurde zu einer Intensivstation im Miniaturformat – mit dem entsprechenden Geräuschpegel. Später wurde sie bei uns zu Hause am Nachmittag und während der Nacht von einem Pflegedienst betreut.  Der Pflegedienst bedeutete eine Entlastung für uns alle und begleitete Paula bis zum Schluss.

Paula war fröhlich und konnte ohne Worte viel sagen. Wenn es ihr gut ging, lächelte und lachte sie häufig. Sie liebte es, geknuddelt und umarmt zu werden. Dann blühte sie richtig auf und strahlte über das ganze Gesicht. So gab sie uns ihre Zuneigung zurück. Sie liebte Sonnenschein und das Geräusch des Windes in den Blättern. Sie hörte gerne Musik und spielte gerne mit weichen Spielsachen, die sie drücken konnte. Wenn ihr etwas nicht passte, zeigte sie das ebenso deutlich durch wütende Grimassen und Gezeter.  

Sie behielt ihre kindliche Unschuld, egal wie alt sie biologisch war. Und sie war eine Kämpferin.  Wenn sie wieder einmal mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus war, kämpfte sie, egal wie schlecht es ihr ging. Im Urlaub erkrankte sie einmal derart schwer, dass ein Arzt meinte, wir sollten die Behandlung einstellen, weil ihr Leben es so nicht wert sei, gelebt zu werden. Paula war anderer Ansicht. Wieder einmal kämpfte sie und wurde gesund. Sie zeigte dadurch mehr, als es Worte ausdrücken können: „Ich will leben.“ Es bedeutete mir sehr viel, dass mein Bruder und ich ihre Taufpaten waren, als sie in unserem Wohnzimmer getauft wurde.

Für uns waren die Worte Jesu ein großer Trost: „Lasst die Kinder doch zu mir kommen und hindert sie nicht daran; denn für Menschen wie sie steht Gottes neue Welt offen“  (Markus 10, 14). Uns gab das Wissen darum, dass Paula nach ihrem Tod bei Gott und vollkommen gesund sein würde, viel Kraft.

In den letzten Monaten vor ihrem Tod verschlechterte sich Paulas Zustand zunehmend. Auch die Beatmung reichte nicht mehr aus, die Lungenfunktion zu ersetzen. Einer ihrer Lungenflügel arbeitete nicht mehr. Sie hatte immer gekämpft, aber dieser letzte Kampf war einer zu viel. Wir merkten mehr und mehr, dass sie gehen wollte. Zwei Wochen vor ihrem Tod mussten wir sie in die Klinik bringen. Und an einem Tag im Winter war es so weit. Nachts wurden wir aus der Klinik angerufen, dass wir kommen sollten. Wir waren von zwei Uhr morgens an bei ihr. Stunde für Stunde glitt sie weiter von uns fort. Am Abend fuhren wir kurz nach Hause. Die Ärzte hatten ihr direkt zuvor vorher ein Schlafmittel gegeben. Das letzte Bild, das ich lebend von ihr vor Augen habe, ist, wie sie friedlich in ihrem Bett schlief. Wenig später machte sie sich still und heimlich davon, als ob unsere Gegenwart sie noch zurückgehalten hätte.

Während des Trauergottesdienstes lasen mein Bruder und ich aus Psalm 139, 13 - 16: „Du hast mich geschaffen mit Leib und Geist, mich zusammengefügt im Schoß meiner Mutter. Dafür danke ich dir, es erfüllt mich mit Ehrfurcht. An mir selber erkenne ich: Alle deine Taten sind Wunder! Ich war dir nicht verborgen, als ich im Dunkeln Gestalt annahm, tief unten im Mutterschoß der Erde. Du sahst mich schon fertig, als ich noch ungeformt war. Im Voraus hast du alles aufgeschrieben; jeder meiner Tage war schon vorgezeichnet, noch ehe der erste begann.“ Diese Tage bedeuteten uns viel und waren unendlich kostbar, auch wenn Paula nicht mit uns als Kinder spielen konnte, nicht arbeitete und nichts leistete, was von uns Menschen oft als wertvoll angesehen wird. Ja, ich danke dir, Herr, dass du uns Zeit mit Paula geschenkt hast. Und dass du sie jede Sekunde davon in deiner Hand gehalten hast.

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