Süßer Tee in Indien

Miriam studiert Englisch und Geschichte auf Lehramt und verbrachte in diesen Semesterferien 2 ½ Monate in einer südindischen Kleinstadt, wo sie an einer christlichen Internatsschule für unterprivilegierte Mädchen aus entlegenen Dörfern ein Praktikum absolvierte.

„Sister, Sister, Wa! Wa! What you want? Apple! Veri nice!“ Auf den ersten Blick präsentiert sich Südindien laut und farbenfroh. Vor bunt bemalten Hausfassaden stapeln sich Pyramiden von Orangen, Granatäpfeln und Bananen und enthusiastisch rufende Verkäufer preisen meterlange Blumenketten an. In der Luft mischt sich auf unverwechselbare Weise der Geruch von Gewürzen und Jasmin mit dem von verbranntem Plastik und Kuhdung. Einige Frauen in bunt gemusterten Saris diskutieren wild in Tamil und eine Gruppe von Männern trinkt gemütlich süßen Tee. Inmitten des immerlauten Gewirrs von Menschen, Tieren und Autorikshas steht ein knallbunt bemalter Tempel, dessen Fassade voller kleiner Götterstatuen ist. Die Mädchen in dem Internat, in dem ich arbeite, lieben es zu tanzen und zu singen, und Freundlichkeit gegenüber Gästen ist hier das höchste Gebot. Es ist entsprechend die ständige Sorge jedes Inders, dass ich nicht ausreichend mit Unmengen extrem scharfem Reis versorgt bin.

Doch je länger ich hier bin und mich in dieses große bunte Chaos hineingebe, umso mehr bröckeln die Fassaden. Und hinter den lächelnden Gesichtern offenbart sich vielfach großes Leid. Hört man sich um, so kennt jeder hier die Geschichten von der Tötung ungeborener Mädchen, sexuellen Missbrauchs und Gewalt an Kindern, nackter Armut und Krankheit. Dazu kommt die Ungleichheit zwischen Menschen, für die Indien bekannt ist. In einem typischen indischen Büro gibt es zum Beispiel ein Hierarchiegefälle zwischen dem, der im Büro unter dem Ventilator sitzen darf, dem, der im Büro auf einem alten Plastikstuhl sitzen darf, und denen, die draußen in der Hitze auf Holzbänken sitzen. Immer wieder höre ich die Geschichten von Frauen, die von ihren Männern geschlagen oder mit mehreren Kindern sitzen gelassen wurden. Bis diese Geschichten erzählt wurden, habe ich jedoch viele Wochen lang süßen Tee getrunken. Da gibt es die Köchin, die ihren High School Abschluss nicht geschafft hat, früh verheiratet wurde und deren Körper nun mit 35 schon völlig verbraucht ist. In ihrem charmanten Englisch und mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht erklärte sie mir: „Kitchen coming smiling, rice preparing. House going crying.“ Dann gibt es Mädchen wie Mega, deren Eltern vor vielen Jahren an Aids starben und deren Familie kaum Interesse an ihr zeigt. Oder Sushma, die immer fröhlich lachend und singend durch die Schule tanzt, deren Vater aber Zuhause regelmäßig betrunken die Mutter schlug und schließlich die Familie im Stich ließ. Sushmas Mutter, ebenso ehr-lich fröhlich und herzlich wie ihre Tochter, hat keine Ausbildung und kann ihre beiden Kinder nur schwer allein durchbringen.

Und immer wieder stellt sich mir die Frage: Was gibt in solchen Situationen Halt? Wer kann helfen? Wer oder was ist es, das Sushma und ihrer Mutter so viel Freundlichkeit und Fröhlichkeit gibt – und immer wieder die Kraft, weiter daran zu arbeiten, dass zumindest Sushma eine Berufsausbildung bekommt? Es ist die Hoffnung, die sich durch jede kleine Verbesserung nährt, die Dankbarkeit für das Wenige, was sie haben, und der feste Glaube, dass es eines Tages Gerechtigkeit geben wird.

Das aktuelle Heft

Bedacht 11Versöhnung. Das ist ein großes Wort und für jeden von uns zu jeder Zeit eine Herausforderung. Wie kann das gehen – Versöhnt leben? Wir begeben uns auf die Spurensuche.

Heft lesen

Newsletter

Du willst wissen was sich bei der BEDACHT so tut? Bleibe immer up to date mit unserem Newsletter!

Werde Sponsor!

Deine Spende an die bedacht ist ein Stipendium für die Gute Nachricht. Deine Unterstützung fließt dabei vollständig in die Produktion der bedacht. Da wir ehrenamtlich arbeiten, fallen bei uns keinerlei Personalkosten an.

spenden


Folge der BEDACHT auf Facebook!      Folge uns auf Twitter!
DMC Firewall is developed by Dean Marshall Consultancy Ltd