Wieder vertrauen lernen

Ben und Luisa haben verlernt, sich tiefer auf etwas einzulassen. Das Leben scheint immer schneller zu laufen und die Anforderungen scheinen zu steigen. Es fehlt die Zeit, sich Orten, Dingen und Menschen intensiv zu widmen. Sie nehmen vieles nur oberflächlich wahr. Ein Gefühl der Entwurzelung stellt sich ein. Was können sie dagegen machen?

Vertrauen3 300© Ann-Christin KleemannBen wächst in Dresden auf. Seinen Bachelor schließt er in Greifswald, seinen Master in Kiel ab. Die ersten Jobjahre zieht er oft um. Kontakte pflegt er nur flüchtig. Für die Lebensgeschichten der anderen hat er keine Zeit. Luisa studiert Medizin in Hannover. Knapp an einer Erschöpfungsdepression vorbeigeschrammt, reist sie nach ihrem Physikum um die Welt. Wie kam es dazu?

Immer schneller

Der soziale Wandel im 21. Jahrhundert ermöglicht Ben und Luisa eine Vielfalt an Optionen der Lebensgestaltung. Wir leben in einer Beschleunigungsgesellschaft, so der Sozialphilosoph Hartmut Rosa, in der die scheinbar unumstößlichen Gebote „Wachstum“, „Innovation“ und „steigende Geschwindigkeiten“ gelten. Die Technologien ändern sich stetig und mit ihnen der soziale Wandel und das Lebenstempo. Wir brauchen immer weniger Brieftauben und Postboten. Stattdessen bereichern digitale Medien unseren Alltag. So können wir per SMS wieder einmal unseren Lebensabschnittsgefährten „Bye“ sagen, weil es einfach nicht passt und wir sowieso nicht genug Zeit finden. Vielmehr lernen wir in den Abendstunden für eine Prüfung, um unbedingt in der Regelstudienzeit zu bleiben. Die Konkurrenz schläft nicht. Wir versuchen bereits die nächsten 10 Jahre zu planen, obwohl wir eigentlich gar nicht wissen, was dann in der Zwischenzeit geschehen wird. Aber wir müssen uns doch in den zukünftigen Bewerbungsgesprächen gut vermarkten. Ob wir dann Kinder haben werden? Wer weiß das schon. Heiraten? Keine Ahnung. Aber das ist Zukunftsmusik, da wir nicht wissen, welches Wissen, welche Werte noch Bestand haben werden. Ben geht in der Beschleunigungsgesellschaft auf. Er liest täglich Handelsblatt und Heise, damit er nicht die neuesten Trends verpasst.  Um auf der Karriereleiter aufzusteigen, nimmt er es in Kauf, ständig den Wohnort zu wechseln und permanent zu arbeiten. Luisa hat erst einmal genug vom universitären Lernen. Die Welt bietet viel mehr als 12 Stunden Bibliotheksluft und lateinische Begriffe. Warum lernte Luisa überhaupt bis zur Erschöpfung? Warum lebt Ben weiter so? Weshalb wird alles immer schneller?
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Immer mehr

Unser Leben wird durch eine kapitalistische Wettbewerbslogik angetrieben, die unsere Welt in ein großes Hamsterrad verwandelt hat. Uns wird gesagt: „Wenn wir als Wirtschaftsstandort Deutschland unseren Status nicht verlieren wollen, dann müssen wir wachsen und schneller werden. Sonst überholt uns China oder Indien und wir werden alle arbeitslos.“ Die Steigerungslogik schenkt uns mehr Optionen, verlangt aber zugleich mehr Optimierung und Flexibilität in allen Lebensbereichen. Alles wird der Arbeitslogik untergeordnet. Unsere gesamte Lebensführung müssen wir rationalisieren. Selbstoptimierung ist gefragt. Statt feste Arbeitszeiten und über Jahrzehnte dauernde Beschäftigungen zu haben, kann immer gearbeitet und ständig der Job gewechselt werden. Vertrautheit mit den Kollegen und individuelles Fach- und Erfahrungswissen werden verdrängt durch unbeständige Bekanntschaften und flüchtige Jobkenntnisse. Als Berufseinsteiger absolvierte Ben erst einmal ein Traineejahr. Nicht nur das praktische Wissen fehlte, auch hielten seine Vorgesetzten seine Persönlichkeit noch für ausbaufähig. Luisa war am Anfang der Weltreise ein wenig mulmig, weil sie Angst hatte, vielleicht beruflich durch die Auszeit abgehängt zu werden. Aber sie entschied sich dafür, weil sie nicht als wandelnde Leiche enden wollte. Waren ihre Befürchtungen berechtigt? Welche Auswirkungen kann der Steigerungszwang eigentlich auf unsere Identität haben?

Beziehungs- und Heimatlosigkeit

Die Wettbewerbslogik trägt zu mehr Erfahrungen der Beziehungs- und Heimatlosigkeit bei. Darunter lässt sich vermehrt das Unvermögen verstehen, eine tiefergehende Vertrautheit gegenüber anderen Menschen, Dingen und Orten zu entwickeln. Hartmut Rosa spricht hier von Entfremdung. Menschen erfahren ihre Lebenswelt primär als rein rational, funktional und kalt. Es fehlt ein antwortendes Gegenüber, eine Resonanz, die nicht nur die kognitiven Leistungen der Menschen, sondern die gesamte Existenz, Gefühls- und Sinneswelt anspricht. Eigene Wünsche und Ziele geraten in Vergessenheit. Stattdessen herrscht ein Gefühl der Fremdbestimmung vor, ein Getriebensein, alles nur machen zu „müssen“. Die widersprüchlichen Ansprüche und Bedingungen der Gesellschaft sowie die übermäßige Optionsvielfalt können nicht mehr angemessen bewältigt werden. Immer mehr Menschen nehmen sich als „erschöpftes Selbst“ (Alain Ehrenberg) wahr, werden depressiv, greifen zur Flasche oder zu anderen Drogen. In Bens Heimatstadt Dresden floriert momentan Crystal Meth, das wie andere Aufputschdrogen immer mehr konsumiert wird. Davon lässt er bisher die Finger. Die Bilder von fleckigen und eingefallenen Gesichtern im Netz schrecken ihn ab. Luise hatte genug von Aufputschmitteln. Ihr reichte das einseitige Lernen. Jetzt ist sie auf Reisen. Die vielen verschiedenen Begegnungen und Eindrücke lassen sie wieder atmen. An der Logik der Beschleunigungsgesellschaft wäre sie beinahe zerbrochen. Was kann sie aber ändern, wenn irgendwann die Weltreise zu Ende ist?

Vertrauen300© Ann-Christin Kleemann

Andere Maßstäbe

Der christliche Glaube kann Luisa und Ben einen alternativen Rahmen ermöglichen, der die Gebote  der Beschleunigungsgesellschaft in ihrer Bedeutung relativiert. Die Maximen „Wachstum“, „Innovation“ und „steigende Geschwindigkeiten“ gründen auf einer „immanenten“ Logik. Das Leben ist begrenzt und somit auch die Anzahl der Optionen. Wenn man schneller und innovativer ist, kann man vielleicht mehr im Leben erreichen. Der christliche Glaube hingegen hat einen „transzendenten“ Charakter. Christen glauben an ein Leben nach dem Tod, wo sie mit Gott später nicht nur in einer „Zweck-WG“ zusammenwohnen werden. Somit müssen sie nicht um jeden Preis nach einem glücklichen Leben streben. Sie können im Hier und Jetzt auf Optionen verzichten, ohne dass sie von einem misslungenen Dasein sprechen müssen. Christsein bedeutet jedoch nicht „Jenseitsvertröstung“ (Ludwig Feuerbach) oder „Opium fürs Volk“ (Karl Marx). Vielmehr schenkt es einen Orientierungsrahmen, der uns vor Selbstausbeutung und -zerstörung bewahren kann. Der christliche Glaube hat somit ebenso eine „immanente“ Seite. Wenn Christen sich der Beschleunigungsgesellschaft auch nicht entziehen können, haben sie die Möglichkeit, sich Gott anzuvertrauen und dadurch der Beziehungs- und Heimatlosigkeit entgegenzutreten. Wie aber kann der Entwurzelung entgegengewirkt werden?

Vertrauen als Grundstein

Eine Vertrauensbeziehung kann als ein zentraler Wert des christlichen Glaubens angesehen werden. Sie kann Ben und Luisa einen Ausweg bieten. Vertrauen ermöglicht zuverlässige Beziehungen und geborgene Heimat in Gott trotz widriger Umstände. Ein Orkan kann hereinbrechen und vieles zerstören, dennoch bleibt Gott. Der jüdische König David singt im Psalm 103 im Alten Testament, „Preise den Herrn, meine Seele, ja, alles in mir ‚lobe‘ seinen heiligen Namen! Preise den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! (...) Wie ein Vater seinen Kindern voller Güte begegnet, so begegnet der Herr denen, die ihm in Ehrfurcht dienen. Denn er weiß ja, was für Geschöpfe wir sind, er denkt daran, dass wir nur aus Staub gebildet wurden. Der Mensch – seine Lebenstage sind so vergänglich wie das Gras. Er gleicht einer Blume auf dem Feld, die aufblüht, wenn aber ein starker Wind über sie hinwegfegt, dann ist sie nicht mehr da“ (Psalm 103, 1 – 2; 13 – 16). Trotz unserer scheinbaren Unbedeutsamkeit sind wir Gott nicht egal. Er will mit jedem einen Weg gehen. Abraham verließ seine Heimat, um Gottes Ziele zu verwirklichen. Gott machte Abraham im Alten Testament der Bibel zum Gründungsmitglied der jüdischen Gemeinschaft, obwohl er nicht mehr der Jüngste war und es mehr als einem Abenteuer gleichkam, mit der gesamten Familie auszuziehen und die alten Sicherheiten aufzugeben. Abraham hatte eine Mission. Er verließ seine Heimat, ohne seine Heimat zu verlieren. Er konnte auf Gott vertrauen trotz ungewisser Zukunft (1. Mose 12, 1 – 4). Im Neuen Testament der Bibel begegnen wir Jesus Christus, der durch seine Hingabe den Grundstein für die christliche Gemeinschaft legte. Der Apostel Matthäus schildert eine Geschichte im Garten Gethsemane vor Jesu Gefangennahme, die von Ängsten und von Gottvertrauen geprägt ist. Jesus schwebte nicht über den Dingen, sondern empfand Ängste wie wir. Sein Gottvertrauen ließ ihn seine Ängste überwinden und ermöglichte ihm, sich für uns stellvertretend am Kreuz zu opfern (Matthäus 26, 36 – 42 und 27,  32 – 56). Jesus forderte von seinen Nachfolgern als Antwort auf seine Hingabe, Gott zu vertrauen (Johannes 14, 1 – 14). Wie lässt sich das für uns heute verwirklichen?

Christliche Gemeinschaft

Ben und Luisa können Gottvertrauen realisieren und gegen die destruktiven Folgen der Beschleunigungsgesellschaft angehen, indem sie sich überhaupt erst einmal einer christlichen Gemeinschaft öffnen. Jesus Christus selbst kann uns hier als Vorbild gelten. Jesus war nie einsam und beziehungslos. Entweder stieg er auf Berge, um mit Gott zu reden, oder ging in Dörfer und Städte, um unter Menschen zu sein. Einerseits war er in einer Gemeinschaft eingebettet, die seinen Glauben teilte, anderseits begegnete er vielen Menschen, die seinem Glauben skeptisch gegenüberstanden. Der christliche Glaube gründet im Wir, er macht nicht Halt bei einer Beziehung zwischen mir und Gott. Gott ist nicht nur ein Gott für einsame Stunden, sondern vor allem ein Gott des Vertrauens in der Gemeinschaft.Als Vorbild kann hier das Verhältnis zwischen Jesus Christus und Gott dem Vater gelten. Beide treten nach christlichem Glauben als Einheit auf, wie es Jesus selbst bezeugt (Johannes 10, 24 – 38). Durch eine christliche Gemeinschaft könnten Ben und Luisa einen immanenten Ort der Gotteserfahrung und -beziehung finden. Die ersten Christen kamen jeden Tag zusammen, um Gott in Gemeinschaft zu begegnen (Apostelgeschichte 2, 42 – 47). Wir müssen nicht als Einzelgänger die Probleme unseres Alltages und der Welt lösen. Wenn Ben und Luisa das Vertrauen verlernt haben, können sie sich Unterstützung holen. Sie können von Christen lernen, wie diese in einer Beschleunigungsgesellschaft konkret leben. Wir sollten christlichen Gemeinschaften eine Chance geben, weil sie nicht nur fehlerhaft sind, sondern auch viel Gutes wirken. Ich konnte z. B. in meinem Leben lernen, was Heimat und Beziehung trotz unruhigen Zeiten bedeuten kann. Statt mich in virtuellen Welten und Depressionen zu verlieren, konnte ich anderen begegnen und davon erzählen, dass es sich lohnt zu leben.

Fazit

Ben und Luisa müssen als Menschen keine passiven Opfer der gesellschaftlichen Prozesse sein. Sie müssen sich dem Steigerungszwang nicht bedingungslos hingeben. Der christliche Glaube kann sie und uns aus der Sackgasse der steigenden Beziehungs- und Heimatlosigkeit führen. Er schenkt andere Maßstäbe als „Wachstum“, „Innovation“ und „Beschleunigung“. Er gründet auf einer zuverlässigen Beziehung, die den Anspruch hat, gerade in stürmischen Zeiten durchzutragen. Indem sich Luisa und Ben der christlichen Gemeinschaft öffnen, bleiben sie nicht bei sich stehen. Sie können trotz möglicher anfänglicher Skepsis wieder vertrauen lernen.

Vertrauen4 600© picsfive – Fotolia.com

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